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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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überlagert, zugedeckt, zerschmettert waren.
    Die Großeltern kamen die Treppe hinunter, ich sagte «Guten Morgen!», sie wiederholten den Gruß, der Großvater im schwarzen Anzug prüfte mich, obwohl er jeden strengen Eindruck vermeiden wollte, lächelte und schien zufrieden mit Haltung und Kleidung des ersten seiner elf Enkel, er hatte in meinem Alter Uniform getragen und fand es immer noch richtig, dass er als Kind schon Soldat gewesen war. Die Großmutter lächelte zärtlicher, eher bemüht, die Strenge ihres Mannes auszugleichen, sie ging auf mich zu, nahm das Gesangbuch aus der rechten Hand und legte den Arm um meine Schulter, sie erwartete keine Worte von mir, keinen Dank, keine gehorsame Haltung, und mit der flüchtigen Geste gelang es ihr, mich aus meinen Gedanken zu rütteln.
    Durch die Haustür sah ich ihnen nach, wie sie zur Kirche gingen, langsam im Glockentakt, sie größer als der Kapitän a.D. Morgen würde der Großvater mit schnelleren Schritten zum Bus laufen, in Neukirchen in den Personenzug, in Bad Hersfeld oder Hünfeld in den Eilzug oder in Bebra oder Fulda in einen D-Zug steigen, immer die genaue Verbindung im Kopf und das Kursbuch in der Tasche, und nach Bad Kissingen oder Bad Pyrmont oder Schleswig-Holstein fahren zur
Evangelisation.
Wenn die Großmutter allein war, hatte sie mehr Zeit für Überraschungen aus Schubladen, für Spiele und Geschichten um die mecklenburgischen Bilder an den Wänden.
    «Komm», sagte die Mutter, nahm meine Hand, und die Glockentöne ließen uns Zeit, rechtzeitig vor dem Vater, der als Letzter ging, unter dem Geläut wie unter einem Klangdach durch den Vorgarten zu pilgern, wenige Schritte von der Haustür zur Kirchentür.

Der Vater Pfarrer redete, er beherrschte die Sprache und zog mit dem gebieterischen Schwarz des Talars und mit lauter, freundlich fordernder Stimme alle Aufmerksamkeit auf sich. Das ganze Dorf, schien mir, hörte ihm zu, unten im Kirchenschiff die Frauen, hoch oben auf der Empore die Männer, und auf der mittleren Empore, wo ich neben der Mutter in einer Reihe mit den Großeltern saß, die Jugendlichen und einige Leute, die sich der überlieferten Sitzordnung nicht fügten. Er hatte die
liebe Gemeinde
die ausgewählten Lieder singen lassen,
Die helle Sonn leucht jetzt herfür, fröhlich vom Schlaf aufstehen wir,
und selbst am lautesten gesungen, ich hatte mitgesungen, neben der festen Sopranstimme der Mutter und nahe der kräftigen Großvaterstimme, im Singen stotterte ich nicht. Die
liebe Gemeinde
hatte er vom Altar aus durch die Liturgie dirigiert mit Rede und Gegenrede, Singen und Antwortsingen, mit Stehen, Sitzen, Stehen, und hielt nun, aufgestiegen auf die holzgetäfelte Kanzel, die Predigt. Eine Steinsäule, darauf Weinreben, Blätter, Trauben und ein Engelskopf mit der Tafel
LEX ET EVANGELIUM
gemeißelt, trug die Kanzel, die oben mit dem grünen Webtuch
ER
ist unser Friede
geschmückt war, und zwischen beiden Sprüchen, zwischen oben und unten bewegten sich seine Worte, ich sah seine Worte eingerahmt, aufsteigend und fallend zwischen dem gewebten und dem gemeißelten Satz.
    Auf der Kanzel war er uns nah gerückt, sein Kopf nicht mehr unter dem Gekreuzigten vor dem Altar, sondern in Höhe der mittleren Empore,
ER
ist unser Friede,
ich verfolgte die unregelmäßigen Bewegungen seines Adamsapfels, seines Beffchens unter dem Hals und im weiten schwarzen Ärmel die Arme und Hände, mit denen er den Worten Auftrieb gab. Von Joseph und seinen Brüdern sprach er, von Verzeihen und Vergeben, und schickte die Sätze, nach Stichworten frei sprechend, nach vorn, nach unten und oben. Er suchte Gesichter, auf die er einsprach, wechselte die Ansprechpartner, schien keinen auszulassen, die fleißigfrommen Bäuerinnen, die Adligen in ihrem Familiengestühl, unruhige junge Männer auf den oberen Bänken, Flüchtlinge, die immer noch Flüchtlinge genannt wurden, Mechaniker und Angestellte, mürrische Bauern und stille junge Mädchen, den Ingenieur, den Lehrer an der Orgel, die Großeltern und meine Mutter, allen versuchte er passende Worte für die Woche mitzugeben. Oft schaute er zu den Männern hinauf, die fast unter der Decke rechts und links der Wand auf langen Bänken nebeneinander an der Balustrade sitzend sich auf die Arme lehnten zum Halbschlaf, entfernt von der ernsten Mitte des Gottesdienstes waren sie auf der
Bank, wo die Spötter sitzen,
von seinen Blicken kaum zu kontrollieren und davon abzubringen, zu flüstern und die Frauen unten zu

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