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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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mustern.
    Er suchte oder streifte auch mein Gesicht, ich hielt seinem Blick nicht stand, vielleicht weil ich mit fünf oder sechs Jahren in einer solchen Situation, am Heiligabend am feierlichen Beginn des Gottesdienstes, laut und freudig durch die randvolle Kirche gerufen hatte
Da ist ja der Vater!
und mit dieser Geschichte immer noch gehänselt wurde. Ich wollte mich nicht noch einmal blamieren mit einer Gefühlsäußerung in der Kirche, über den Abgrund zwischen Empore und Kanzel hinweg, jeder Blick konnte eine falsche Reaktion, ein Grinsen auslösen, ich sah zur Seite, studierte die Rankenmuster auf dem grüngrauen Gebälk, sah weg vom Vater, der die Leute aufmunterte oder langweilte mit der Geschichte aus Ägypten vom guten Joseph, der seinen bösen Brüdern verzeiht. Die Geschichte klang wie alle Geschichten, wie die
Gleichnisse
vom Steuermann, dem der Stern Gottes den Weg weist, vom Bauern, der pflügt und nicht zurücksieht beim Pflügen, vom Sämann, vom Ölbaum, immer war eine dieser eindeutigen Geschichten aus der quälerischen Landwirtschaft des Alten oder Neuen Testaments zur Hand, und anders als in den Märchen siegte das Gute sofort.
    Ich hörte der Vaterstimme zu und hörte ihr nicht zu, hörte nur den Wortteppich und breitete meine eigenen Gedanken darüber aus, versuchte mich darauf auszuruhen, ich konnte mich in die biblischen Geschichten und Deutungen nicht verlieren wie in ein Buch, sie waren nur der sprachkräftige Ausschmuck einer Vorschrift, deshalb zogen sie mich an und stießen mich ab, stießen mich zurück. Mein Vater gab sich Mühe, den Geschichten einen menschlichen Ton zu geben, das Erlösende, Befreiende, das Frohe der Botschaft zu vermitteln, aber in seiner lockeren Anstrengung, in der energischen Betonung mancher Silben steckte etwas von der Furcht, vergeblich zu reden und mit Worten die Menschen nicht zu erreichen oder eine Ermutigung herzustellen, die länger als eine Predigt, einen Sonntag, eine Woche dauerte.
    Meine Mutter sah ich erfüllt von diesen Worten, im Kokon einer frommen Gewissheit, mit einem inneren Stolz und einem stillen Leuchten in den Augen. Selbst in der Predigt waren die beiden sich nah, mir schien, dass er manchmal direkt zu ihr sprach und sie jedes seiner Worte
in ihrem Herzen bewahrte.
Sie bemerkte meinen Blick, sie sah mich beschwichtigend an, um Geduld bittend, aber ich sah weg, hinunter auf den Altar, den sie an jedem Sonnabend mit Blumen schmückte, zu den brennenden Kerzen auf den beiden Leuchtern und zum schwarzen Kreuz in der Mitte, auf den orangeroten Teppich mit Weinstockmuster davor, den Holzleuchter darüber, alles fest, oft gesehen wie das INRI -Schild und doch von Rätseln durchsetzt. Ich scheute den Blick auf das schmerzverzerrte Todesgesicht und die fürchterlichen Nägel auf Händen und Füßen, starrte dann doch zum Abbild des toten nackten Heilands, über den zu viele Wunderdinge erzählt wurden. Warum sollte gerade dieses Gesicht ein Ausdruck höchster Liebe sein?
Er hat auch für dich gelitten,
diese Begründung reichte nicht, ich konnte und wollte nicht einsehen, weshalb man sich an einem Sterbenden weidete, so viel Leben aus einem Gequälten sog, warum wir einen Toten anbeten mussten.
    Ich sah weg und wollte in keine Gesichter schielen, sah an den Wänden in roter Farbe die Schmuckschrift, die Flammenschrift mit Psalmenversen an der Wand, sah in den Fenstern die Rautenmuster, am Rand der Verglasung kleine rote und blaue Rechtecke leuchten und prüfte, ob die Nummern der Lieder und Verse auf den zwei Tafeln, die ich von meinem Platz aus im Blick hatte, übereinstimmten und die Konfirmanden keine Fehler gemacht hatten.
    Auf den Sinn der Predigtsätze, die ohnehin nur für Erwachsene gedacht waren, achtete ich nicht mehr, ich hörte nur einzelne Wörter heraus, hörte der Vaterstimme zu, die zwischen Höhen und Tiefen, zwischen betonten und unbetonten Silben gekonnt wechselnde, mal leiser, mal lauter modulierende Stimme, und fragte mich, ob nicht doch eine fremde, eine von Gott gegebene Stimme aus ihm sprach, eine fremde Kraft seine Hände und gemessenen Gesten lenkte, ob vielleicht doch der viel berufene Heilige Geist seinem Gesicht diesen beinah heiteren, zugewandten Ausdruck gab. Wenn es nicht der Raumklang der Kirche ist, der diesen von oben heranschwebenden, starken und wenig bedrohlichen Ton erzeugt, wenn seine Stimme also von einer fremden Stimme gespeist wird, überlegte ich, verfügt er über sie nur bei Gottesdiensten, Taufen,

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