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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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Kindern noch etwas leichter, aber vor Männern, vor Lehrern und vaterähnlichen erwachsenen Gestalten gab es keine Ausnahme: ich versank zwischen deren Erwartung und meiner Unfähigkeit oder Unwilligkeit, der erwarteten Erwartung zu entsprechen. Bei jedem Stocken drohte die Ungeduld dessen, der mir gegenüberstand. Unter den fordernden, missbilligenden oder von meinem Gestammel belästigten Augen fühlte ich mich im Unrecht, am falschen Platz, von der Hitze der Schamröte entstellt, überflüssig fühlte ich mich und schon verschlungen. Zu viele meiner verbotenen Gefühle drängten gleichzeitig nach oben, schoben die einfache Antwort, die mir schon auf der Zunge lag und erwartet wurde, beiseite und besetzten den engen Raum neben den Stimmbändern, legten die Stimmbänder lahm, blockierten das Mundwerk, und ich fühlte, wie man mir die Konsonanten, mit denen ich noch rang, am liebsten mit nackter Hand aus dem Gaumen gezerrt hätte, um mir zu beweisen, wie einfach die einfachste Sache der Welt ist: Sprechen.
    Je mehr ich ins Schwitzen und Stocken geriet, desto mehr sah ich mich von außen: der Junge gerät ins Schwitzen und Stocken bei einfachen Wörtern. Ich sah die Beobachter mich beobachten, sah mich aus der Perspektive des Lehrers, des Vaters oder eines anderen Herausforderers, schlotternd, stotternd mit rotem Kopf, an der Sprache würgend, verfangen in Schuldgefühlen, und wusste gleichzeitig, dass dieser fremde Blick, in dem ich eine Anklage vermutete, richtig sah, denn ich fühlte mich ja selber schuldig, sah meine Fehler, mein Unwissen, meine Lügen und Ausflüchte längst durch die Augen des andern und bestätigte mit meiner ängstlichen Silbensuche, mit den wiederholten Anläufen, das Hindernis eines verhassten Konsonanten zu nehmen, jeden bösen Verdacht.
    Selbst wenn die Eltern mich beruhigten:
Sprich langsamer!
und ich langsamer zu sprechen versuchte, gelangen vielleicht ein paar Worte besser, aber dann hing ich wieder fest. Auch die Mutter fand keine begleitenden Sätze oder Gesten, die mich aus der Sprachhölle befreiten, die Flammen der widerspenstigen und scharfspitzen Konsonanten erfassten mich trotzdem und brannten in mir, bis die Tränen fielen und ich weinend aufgab. Ich musste mich damit abfinden: ich war unfähig, normal zu sprechen, es war meine Schuld, woher kam die Schuld?
    Es gab das Bibelbeispiel vom Turmbau in Babel, da wollten sie
sich einen Namen machen,
da wollten sie
bis an den Himmel
bauen, wurden bestraft, verstanden die Sprache des andern nicht mehr, da mussten sie sich
zerstreuen,
da war ihnen die Sprache verwirrt, weil sie eine
Sünde
begangen hatten: welche
Sünde
hatte ich begangen, wofür wurde ich bestraft? Ich wusste es nicht, ich wusste nur, ich hatte keine Chance, auch ich hätte in den verbotenen Apfel gebissen, auch ich schlug mich mit meinem Bruder Abel, für mich wäre kein Platz auf Noahs Arche, ich wäre zum jämmerlichen Ersaufen verurteilt, wozu sollte ich noch das Schwimmen lernen, auch ich hätte mich in Sodom umgedreht und wäre zur Salzsäule erstarrt, auch ich hätte in Babel mitgebaut, so ein Turm war doch eine gute Idee und eine Leistung immerhin. Ich entkam den Strafgerichten der Bibel nicht, ich sah die verstörten Gesichter der fliehenden, mordenden, weinenden, rasenden, betenden, halbnackten muskelstarken Figuren des Alten Testaments in der Bilderbibel auf den Holzschnitten von Schnorr von Carolsfeld. Ich hatte keine Chance vor diesem Gott, wenn schon die starken gottesfürchtigen Männer und Frauen die Prüfungen nicht bestanden, dann gab es kein Entkommen vor dem Foltergott, der es auf die ungehorsamen und bösen Menschen abgesehen hatte, die er gerade selbst erschaffen hatte.
    Welche Rettung gibt es, wenn alles vorherbestimmt ist? Wenn der
liebe
Gott
heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied
? Warum muss ich in meiner elfjährigen Nichtswürdigkeit mich mit einem Gott herumschlagen, für den überall in der Welt, nicht nur in meinem kleinen Dorf, dicke Kirchenmauern und Türme errichtet, für den so viele Bücher geschrieben sind, vor dem alle Leute die Hände falten? Was trennt mich von dem Gottesgebäude, in dem Vater und Mutter und Onkel, Großvater und Großmutter und eine endlose Zahl von Vorfahren ihren Lebenssinn gefunden haben? Warum kann ich nicht pfeifen auf das alles?
    Ich wusste nur: mir verschlug es die Sprache. Mein Stottern war der Beweis, dass ich in Babel dabei gewesen war zumindest in Gedanken. Wollte

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