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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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noch einmal gemeinsam im Gesang aufgestiegen waren in die höchsten Lagen, mit letzten Reserven vor dem nahen Ziel, mit Erleichterung ausgestoßen über das Ende der wunderlichsten und für manche Leute tröstlichsten Stunde der Woche, hob der Mann im Talar die Arme, die Hände rechts und links gleichzeitig in Gesichtshöhe, die offenen Handflächen der nun hellwachen Gemeinde entgegen. Alle konnten sehen, dass er keine Wundmale vorzuweisen hatte, kein Jesus, aber sein Stellvertreter, und vielleicht vermochten nur meine Augen in schattigen dunklen Stellen, an der Furche der Lebenslinie von fern etwas Vergleichbares vermuten. Je nachdem, wie er die Hände hielt oder wie der Schatten fiel, auszuschließen war der Gedanke nie, dass er, wieder unter dem Kreuz und vor dem Altar, etwas von dem Mann verkörperte, der auf dem Wasser laufen und Wasser in Wein verwandeln konnte, obwohl der Ehering golden aus der Hand glänzend etwas anderes verriet und obwohl viel Hoffmanns Stärke nötig war, um die Manschetten unter den Ärmeln des Talars weiß und starr leuchten zu lassen. Er hob seine großen, segnenden Wunderhände, setzte zu seiner letzten Beschwörung, zum Höhepunkt seiner Vorstellung an und sprach dazu:
Der Herr segne euren Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit. Amen.
Dabei schnitt er mit der rechten Hand die Luft von oben einen knappen Meter nach unten und setzte eine kürzere Linie horizontal dagegen, dass wir an ein Kreuz denken sollten, das nun unsichtbar zwischen uns stand.
    Es war nicht so sehr diese magische Geste, die ihm vorgeschrieben war, sondern der Akt, den ich bewunderte: uns mit dem Zeichen des Kreuzes, das auch gegen den Teufel als letztes Mittel helfen sollte, noch einmal in seinen Bann zu ziehen und mit dem Segen zu entlassen. Das Erstaunliche war, dass er diesen Segenswunsch bis in die
Ewigkeit
verlängern konnte und mit dem Donnerwort, das wir nur im Vaterunser auszusprechen wagten, schließen durfte:
in Ewigkeit. Amen.
    Da stand ich mit meinen elfeinhalb Jahren, eingepackt in die Zeitspanne zwischen diesem Sonntagmorgen und der
Ewigkeit,
und es öffnete sich die unvorstellbare, künftige, endlose Zeit, in der meine unvorstellbaren, künftigen Möglichkeiten verborgen lagen. Der Bogen dieses Wortes reichte weit über mein kleines Leben hinaus, reichte über alle Leben, alle Welten und Sternwelten hinweg und wurde nur, als sei das Nachsinnen über die
Ewigkeit
unerwünscht, von dem Wort
Amen
gebremst. Wir sangen aus voller Kehle
Amen Amen Amen,
ehe sich alles lockerte, die Haltungen, die Gesichter, die Hände, und alle sich beeilten, von munteren Orgelklängen angetrieben, das Schiff Kirche ohne auffälliges Drängeln, aber so zügig wie möglich, unter dem höhnischen Beifall der Münzen, die im Kollektenteller auf andere Münzen klimperten, zu verlassen und draußen wieder festen Boden zu betreten.

Ich aber, wie oft schwankte und fiel ich, stürzte ab mit meiner Sprache, presste die Stimmbänder zusammen, klammerte mich an die aufsteigenden Lautbrocken und fand keinen Halt und fiel: wenn eine Antwort erwartet wurde und eine Spur Angst im Spiel war, blieben die Konsonanten im Rachen stecken oder verknoteten sich zwischen Zunge, Zähnen und Gaumen und nahmen mir den Atem, die Silben stockten und sperrten sich, noch ehe sie gebildet waren, zu reibungslosen Wörtern zusammengesetzt zu werden, ich verzitterte, verzerrte den Mund, straffte Stimmbänder und Zunge und schaffte es trotzdem nicht, die Silben zum Klingen zu bringen.
    Schon wenn ich Atem holte zum Sprechen, brannte es im Gaumen oder zwischen den Zähnen. Ich fürchtete alle Wörter, die mit Z oder mit T oder D, P oder B, K, G oder Q begannen, wollte nicht gleich vor diesen Klippen kapitulieren, versuchte es trotzdem und hing fest. Ich hasste Wörter wie Glocke, Glauben, Gnade, klein wegen der unüberwindlichen Doppelkonsonanten und versuchte, gefasst zu sein auf die Abgründe vor den gefährlichen Mitlauten. Ich musste all diesen Hindernissen am Anfang der Wörter ausweichen und konnte ihnen selten ausweichen, ich musste die Wörter wägen, eh ich ihre Aussprache in Angriff nahm, und bis ich durch das Dickicht der Verschlusslaute, stimmhaft und stimmlos, Lippenlaute, Zahnlaute, Gaumenlaute, gefunden hatte, prüfend, schummelnd, schluckend, glättend, wuchs wieder die Scham über die Schande, vom eigenen Mundwerk blamiert zu werden, und ich stockte und gab auf.
    Vor Frauen war es leichter, das Sprechen der Sprache zu finden, vor

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