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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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ich
bis an den Himmel reichen,
wollte ich mir
einen Namen machen
? War ich so vermessen und kindisch wie die Leute in Babel? Ich wusste es nicht, wurde nur täglich auf das Ergebnis gestoßen: meine Sprache war verwirrt und zerstreut, ich trug die Babelgeschichte mit mir herum, trug sie in mir aus, ich spürte den Turm in meinem Körper wachsen und wie er von der Lunge her gegen die Kehle stieß, mich am Atmen hinderte und die Luft abschnitt: ich wurde zerstreut, zerstreut in alle Welt, weil meine Wörter, Silben, Konsonanten und Gedanken nicht zusammenpassten.
    Bald glaubte ich nicht mehr daran, dass jemand von mir noch etwas Gutes und Gelungenes erwartete. Ich richtete mich in meiner Sprachhölle ein und entdeckte, welche Macht ich über die Zeugen meines sprachlichen Unglücks gewann, wenn ich die erstarrte Situation weiter erstarren und den Abgrund zwischen den Gedanken und Wörtern, die Spanne der unanständigen Pausen zwischen den Lauten noch weiter auseinanderklaffen ließ und damit das, was mir peinlich war, auch zu einer Peinlichkeit für den Fragenden und andere Zuhörer werden ließ. Damit erreichte ich, dass man immer seltener das Risiko neuer Peinlichkeiten einging, mich öfter in Ruhe ließ – und so konnte ich an meinem Fehler Gefallen finden und das drückende Schamgefühl über das Stottern mit einer heimlichen Lust am Stottern mildern.
    Ich entdeckte, welche Aufmerksamkeit dem sprachkranken Kind zuwuchs, aber ich lag ja nicht krank, umsorgt und verwöhnt. Ich hatte Schwerarbeit zu leisten, mit dem Stottern zu betteln, verstanden zu werden: Schaut mich freundlicher an, traut mir was zu! Befreit mich aus dem Zustand, in dem ich Verdächtiger, Schuldiger, Ankläger in einem bin! Lasst mich meinen eigenen Text sprechen! So sagte ich auf meine Weise: Nein! oder: Helft mir! oder: Was sind die Wörter gegen das, was ist! Vielleicht sprach ich in der Zerrissenheit auf verkehrte Weise eindeutig von mir, vielleicht war ich mir selbst nie so nah wie in der Hitze der Peinlichkeit, vielleicht ließ ich deshalb die Hoffnung nicht los, mit meinen Worten und Gedanken reibungsloser eins zu werden in einem späteren Leben, weit weg von allen Verdammungen und Niederlagen, also bei den Siegern. Von anderen, leichteren, helleren Sprachen träumte ich, einer Sprache, die nur aus Vokalen bestand, zur Not angereichert mit wenigen hindernisarmen Konsonanten wie F, H, L, M, N, S, R, W.
    Ich stand auf dem Hof, stumm, hörte die lauten Schwalben in ihren Nestern am Scheunendach und die Spatzen unter der Linde. So fliegen und schwatzen können wie die Schwalben in ihrer Sprache aus lauter Vokalen, auch das eine Möglichkeit. Die Mutter war in die Küche gegangen, der Vater in seinem schwarzen Gewand sprach mit einigen Kirchgängern. Ich drehte ihm den Rücken zu, schlich zu meinem Fahrrad in die Scheune, auf dem Rad konnte ich das Stottern vergessen, aber so kurz nach dem Gottesdienst war Radfahren nicht erlaubt. Mein schwarz lackiertes Gebrauchtrad war vor die andern gelehnt, weil niemand so viel Rad fuhr wie ich, ich sparte auf ein neues, träumte von einer Gangschaltung, sie war nicht bezahlbar, ich wünschte einen Fahrradständer, er war bezahlbar, wenn ich lange genug sparte, aber der Vater hatte verfügt:
Ein Fahrradständer ist Unsinn, ich weiß es, ich habe selbst mal einen gehabt, der ging sofort kaputt.
Ich träumte von einem eigenen Fußball, einem Lederball, ich spielte nur mit Gummibällen, ich träumte vom Geruch frischen Leders, von der Hand auf der zarten, festen Lederhaut, ein Ball, den man treten musste und liebhaben und mit Schuhcreme pflegen, besser als die Sonntagsschuhe, wer einen Ball hatte, war beliebt und durfte entscheiden, wer mitspielte und wer nicht, wer einen Ball besaß, hatte schon fast gewonnen, der Ball war teuer und so unerreichbar wie der Fahrradständer. Ich wollte hinaus, auf die Felder und Fußballfelder oder sofort die Übertragung im Radio hören. Wenige Stunden noch, die Spannung auf das Endspiel wuchs, ich kämpfte sie nieder, gefangen zwischen Gottesdienst und Mittagessen, allein mit meiner einzigen Stärke, meiner einzigen Waffe, der gestörten Sprache.
    Ich nutzte es aus, dass man mich immer weniger anzusprechen wagte, ich hatte es leichter mit den Lügen, ich lernte die Schande des Stotterns zu akzeptieren. Vielleicht wollte ich etwas stören und nicht reibungslos funktionieren, wie ein Pfarrerssohn vorbildlich gut zu funktionieren hatte. Vielleicht wollte ich meinem Vater einen

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