Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Kloß in den Hals legen, seine ferngesteuerte Zunge lähmen, seine magischen Fähigkeiten begrenzen und mitteilen: es geschieht dir recht, wenn ich stottere! Vielleicht wollte ich die Fremdsprache der Eltern verlernen und wurde trotzdem wieder dahin geworfen, von der Brandung der Gebete und Lieder immer wieder an die Klippen geschmissen, aufgerieben zwischen der Spracharmut der Mutter und der Sprachmacht des Vaters, bis ich den Atem verlor, bis meine Stimme auch bei den Wörtern mit leichter zu sprechenden Konsonanten versagte und ich entschiedenere Ablenkungen suchen musste, um im verdrückten Schmerz nicht zu versinken, im Sprachgewürge nicht zu ersticken.
Ich ging langsam ins Haus zurück, zu stumm, um nach Hilfe zu schreien, und die Hilfe ablehnend, die der Spruch in alter Schrift auf dem ersten Deckenbalken im Flur empfahl:
Jesu iuva iugiter. Jesus, hilf beständig!
hatte ich gelernt zu übersetzen, trotzdem vergaß ich die genaue Übersetzung immer wieder, weil auch Jesus nicht half, die Barrieren der kranken Sprache und der kranken Haut zu überspringen, die mich von meinen
Nächsten
trennten. Ich ahnte nur, dass es besser half, wenn ich mich aus seinem Dunstkreis entfernte, möglichst weit weg: dahin, wo ich nicht stottern musste, wo kein Gesetzestafel-Gott wohnte, wo die Äpfel nicht von Verboten und Schlangen vergiftet waren, wo ich nicht als Sünder ersaufen und nicht den Bruder schlagen musste und wo kein neues Babel drohte.
Zwölfmal rief der Kuckuck aus dem Flur, eine halbe Stunde noch bis zum Mittagessen. Der Kuckuck steigerte meine Spannung, dreißig Minuten versteckt in seinem hölzernen Zeitnest, stieß er, wenn der große Zeiger die VI oder XII erreicht hatte, sein Türchen auf, rief hastig die Stunden oder halben Stunden aus, er brachte den Anpfiff in Bern wieder dreißig Minuten näher, schnitt mit seinen Rufen ein Stück Wartezeit ab, bei jedem Auftritt schien er zum Flug zu starten, federte aber nach seinem schnellen Doppelton sofort wieder zurück und zog die Klappe zu, ein eiliger, aggressiver Schiedsrichter der Minuten, unerreichbar hoch an der Wand.
Der Bratenduft hatte den Flur erreicht, mein Hunger wuchs mit der Spannung auf das Spiel. Ich konnte mit niemandem über meine Erwartungen an das große Ereignis reden, die Geschwister waren zu klein für die Fußballwelt, die Eltern wollten davon nichts wissen, und die Freunde saßen jetzt in ihren Häusern beim Essen. Ich holte mir die Zeitung aus dem Amtszimmer, wo mein Vater und der Kirchenvorsteher die Kollekte zählten und die vielen Groschen und wenigen Markstücke zu kleinen Säulen stapelten.
Ich nahm die Zeitung, die
Hersfelder Zeitung
von Sonnabend, dem 3 . Juli, ging hinauf in unser Zimmer, wo mein Bruder das neue Heft des Kindergottesdienstblättchens
Für Euch!
las und die Rätselseite durchging,
Onkel Pfiffig gibt Nüsse zu knacken.
Ich beteiligte mich heute nicht an Silbenrätseln, Bilderrätseln und Scherzfragen, mit denen das Evangelium für Kinder abgerundet wurde, ich setzte mich wie ein Erwachsener an meinen Tisch und schlug die Zeitung auf. Die erste Seite mit großen Fotos der Stiftsruine und des Bundespräsidenten, Theodor Heuss war nach Bad Hersfeld gekommen zur Eröffnung der Festspiele, die Festspiele als einzige Nachricht auf Seite 1 interessierten mich nicht, ich suchte die Sportseite und las noch einmal, was ich am Sonnabendnachmittag schon gelesen hatte.
«Auf welche Frage kann man nie mit Ja antworten?», fragte mein Bruder. Ich wusste es nicht, ich sagte: «Lass mich Zeitung lesen!» – «Willst du’s wissen?» – «Nein.» – «Schläfst du?» – «Ach so.»
Sind die Ungarn zu stoppen?
Das war meine Frage.
Deutsche Nationalelf will den Himmel stürmen.
Der Satz irritierte mich auch bei der zweiten Lektüre, der Himmel war für die Frommen, die Engel und Gott, ich las den Artikel über das Spiel nun sehr langsam, die Aussichten, die Hoffnungen.
Ein Fußball-Traum ist Wirklichkeit geworden,
ich verfolgte mit dem Zeitungsreporter noch einmal die Wege ins Endspiel, belebte die Freude über vergangene Siege gegen die Türken, die Jugoslawen, die Österreicher. Ich las und war mit dem Verfasser der Meinung, dass es keine Chance gab, Weltmeister zu werden,
die deutsche Chance ist klein, hauchdünn, dennoch,
ein Spiel sei erst nach neunzig Minuten gelaufen, las ich und versuchte mir Wörter wie
körperlicher Zustand, konsequenteste Abwehrarbeit, steiles Angriffsspiel
einzuprägen. Wie der Reporter war
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