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Der Sonntagsmonat

Der Sonntagsmonat

Titel: Der Sonntagsmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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meiner uxor in Schlaf sank), gelegentliche, sehr vereinzelte whiskeyselige Momente und sonntags die Beilagen mit den Comic-Strips. Das war «die gute Seite». Ich traute Gott zu, daß er auf dieser Seite war. Auf der anderen, der schwarzen Seite, die wohl eher als «die erbärmliche Seite» denn als «die böse Seite» zu bezeichnen war, befand sich die Menschheit (als biologische, den Erdball vernichtende Spezies wie auch als jene Gattung, von der einige hundert Exemplare meiner geistlichen Betreuung unterlagen – und ein mich anwidernder, banaler, jämmerlich niedrig gesinnter, erdgebundener, sich ewig gleichbleibender Haufen waren sie), mein eigener ekelhafter Körper, die meisten institutionellen und politischen Tendenzen seit 1965, die allgemeinen Verfallserscheinungen in der Welt, die Zeit in allen ihren Manifestationen, Leid, Ernährung, Bücher und alles übrige, was in den Sonntagszeitungen steht. Nun ja (eine kribbelige Floskel, die meine immer heftiger drängende Lust auf ein erfrischendes Duschbad, einen Whiskey Sour, einen beruhigenden Blick in eine leicht getönte Wüstenlandschaft und ein harmloses Geplänkel männlicher Frotzeleien verrät), Alicia forderte ein kleines Stück vom Kuchen der Menschheit für das Gute und Schöne und verschob so die Achse der Trennlinie um (grob geschätzt) 10° und gab Anlaß zu einer neuen Beschriftung der jetzt seitwärts geneigten Hälften: die weiße war «Das Leben», die schwarze war «Der Tod». Die meisten Bestandteile blieben von dieser Neuausrichtung unberührt. Gott, der es mit den Gewinnern zu halten pflegt, wählte das Leben als Sein Element und fuhr fort, meine Gebete wie bisher zu prüfen und meine Verdauung zu überwachen. Der Umstand, daß alles, was nicht von Gott bewohnt wurde, tot war, gab ihm freiere Hand. Aber dabei ereignete sich ein Unglück: in dem Keil unmittelbar gegenüber von Alicia und ihren Pfirsichschreien und ihren schwebenden Brustwarzen befand sich ein harmloser, mit «ux.» beschrifteter Sektor, der von meiner Frau Jane, geb. Chillingworth, bewohnt war. Dieser Keil wurde dunkel wie ein Dachkammerfenster.

6
    Heute ist Sonntag. Zwar versucht man, uns das zu verheimlichen, aber ich kann zählen: ich kam mit einem Montagsflug hierher, und heute ist mein sechster Morgen. Ich muß predigen. Allerdings ohne Bibel, ohne eine umfassende und langweilige Enzyklopädie mit Predigthilfen und etymologischen Erklärungen aramäischer Wörter, ohne Organistin, ohne Gemeinde. Sei’s drum. Noch habe ich mein Gedächtnis und eine Seele (lasset uns darum beten, daß sich am Ende aller Tage nicht beide als synonym erweisen mögen).
    Unser Predigttext steht im Evangelium nach Johannes, Kapitel 8, Vers 11: So verdamme Ich dich auch nicht.
    Diese Worte spricht Jesus, wie ihr euch wohl erinnert, zu der im Ehebruch ergriffenen Frau – «auf frischer Tat» ergriffen, wie die Schar der Pharisäer es ziemlich pikant ausdrückt –, nachdem keiner ihrer Verkläger seiner Aufforderung, den ersten Stein auf sie zu werfen, gefolgt ist. Was für eine herrliche, seltsame Episode! Erst spät, wie uns Gelehrte versichern, in den Bericht des Evangelisten eingefügt, und in einem deutlich unjohanneischen Stil; tatsächlich ist sie in einigen Handschriften an das zweite Kapitel des Lukas angehängt – ein Stück frühchristlicher Tradition, hierhin und dorthin flatternd, um seinen festen Platz im Kanon zu finden. So erscheint die Geschichte also nur mit freundlicher Genehmigung des Johannes, des jüngsten und am wenigsten praktischen der Evangelisten.
    Und hier, in einer Geste, die in den Berichten über Sein Erdenleben nicht ihresgleichen hat, bedrängt von den frechen Zudringlichkeiten der Schriftgelehrten und Pharisäer, bückte Jesus sich nieder und «schrieb mit dem Finger auf die Erde» – als hätte Er sie nicht gehört. Nirgendwo wird uns berichtet, daß Er etwas geschrieben hätte. Welche Worte Er schrieb, wird uns nicht gesagt, was für mich eher auf die Authentizität der Geste hindeutet, als daß es einen Schatten des Zweifels darauf wirft; denn warum mehr in den Bericht aufnehmen als die Tatsache, daß es so geschah? Er schrieb, Seine rachsüchtigen Fragesteller irritierend, einfach nur vor sich hin, und wir empfangen so einmal mehr einen Eindruck von der unerhörten Freiheit unseres Herrn, von der etwas gleichgültigen und losgelösten Art Seines Erdenwallens.
    Und dann, als die Pharisäer durch Sein großartiges «der wage es» zerstreut sind, lesen

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