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Der Sonntagsmonat

Der Sonntagsmonat

Titel: Der Sonntagsmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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eingetretene Ebbe, und bei der Speisung der Fünftausend – dem einzigen Wunder, das in allen vier Evangelien bezeugt wird – beschämte Jesus die Menge und brachte sie so dazu, unter der Menge ihrer Mäntel eine bis dahin eifersüchtig gehortete Menge Vesperbrotbüchsen hervorzuholen. Exegeten dieser Schule machen darauf aufmerksam, daß unser Herr und Heiland, bevor Er den Blinden aus Bethsaida heilte, in die Hände spuckte – als sei Speichel ein erprobtes Heilmittel gegen den grünen Star. Sie erwähnen mit einem verständnisinnigen Augenzwinkern, daß der Salzgehalt des Toten Meeres so hoch sei, daß man buchstäblich darauf «wandeln» könne – ohne indes zur Kenntnis zu nehmen, daß Petrus, als er es Ihm gleichtun wollte, anhub zu sinken. Wispernd sagen sie das Zauberwort «psychosomatisch» – so als hätte sich Lazarus nur eingebildet, er wäre tot, als hatten die Schweine spontan beschlossen, schwimmen zu gehen, und als wäre der Feigenbaum unter Hypnose verdorrt. Mit den Absurditäten eines solchen Naturalismus braucht man sich nicht näher zu befassen.
    Und doch liegt eine wahre Erkenntnis in dieser Art Naturalismus. Denn unser Herr vollbrachte Seine Wunder so natürlich, wie die Erde Blumen hervorbringt. Wunder gingen Ihm von der Hand, so wie Wassertropfen zwischen den Fingern eines aus seinen Händen trinkenden Mannes entweichen. Sie geschahen gegen Seinen Willen; da ist kaum eines, das Ihm nicht entlockt worden wäre – durch Seine Mutter, durch einen Jünger, durch den Hunger einer Menschenmenge, durch das unabweisbare Flehen eines Gebrechlichen. Denn Jesus wandelte in jenem von den Römern beherrschten Palästina auf einem Meer von Leiden. Unter den Krankheiten, die zu heilen Er sich herabließ, werden Blindheit genannt, Taubheit, Wassersucht, Aussatz, Impotenz, Fieber, körperliche Difformität, Blutfluß, Wahnsinn – eine jammervolle und dabei unzweifelhaft lückenhafte Liste.
    Hier stutzen wir, nicht weil wir an der Glaubwürdigkeit dieser Wunder zweifelten – sie haben sich mit so viel Sicherheit zugetragen, wie alle in den Evangelien berichteten Ereignisse sich zugetragen haben –, sondern wegen der ihnen zugrunde liegenden Auswahl. Warum nur diese wenigen, warum nicht alle Leiden von Anbeginn der Geschichte des Menschen? Ja, von Anbeginn des Lebens überhaupt? Warum Schmerz und Ringen, Krankheit und Parasitismus überhaupt erst als zum Leben gehörende Leiden einsetzen? Lesen wir die Geschichte von der Frau, die «zwölf Jahre den Blutgang gehabt» – zwölf Jahre! – und die von hinten zu Ihm trat und Seines Kleides Saum anrührte und wahrhaft glaubte, wenn sie nur Sein Kleid anrührte, würde sie gesund – werden wir dann nicht ärgerlich? Ärgerlich nicht über ihre Unverschämtheit, sondern ärgerlich darüber, daß ihr dieses Anrühren, dieses lange Suchen, diese Gefahr der Demütigung zugemutet wurde, während doch Gottes Allmacht ihr Leiden selbstverständlich hätte auslöschen können, wie steiniger Grund das Kraut verdorren läßt? Fühlen wir uns nicht veranlaßt zu revoltieren und diese winzige und willkürlich auserwählte Aristokratie der Geheilten zu stürzen, die zufällig in den drei Jahren, in denen unser Herr predigend umherzog, lebten und sich gewaltsam in sein Blickfeld drängten? Stimmen wir nicht ein in den Ruf der Synagoge zu Nazareth: «Denn wie große Dinge haben wir gehört, zu Kapernaum geschehen! Tu auch also hier, in Deiner Vaterstadt»?
    Und gibt er nicht eine erzürnende Antwort: «Viele Aussätzige waren in Israel zu des Propheten Elisa Zeiten; und deren keiner ward gereinigt denn allein Naeman aus Syrien»?
    Und fühlen wir uns nicht, heute wie damals, gedrängt, uns zu erheben und Ihn aus der Stadt hinauszustoßen und Ihn an den Rand des Hügels zu führen, damit wir Ihn kopfüber hinabstürzen können, auf daß Er mit uns – uns, den ertrinkenden, den hungernden, den fallenden Menschen – die Unerbittlichkeit der Naturgesetze zu spüren bekomme, die nicht eine Spur von ihrem Wirken außer Kraft setzen, wie gewaltig und absolut auch der Schrei unseres entsetzten Geistes sein mag?
    Und heute wie damals schreitet Er – unsichtbar, ungreifbar – durch unsere Mitte und geht Seiner Wege.
    Denn Seine Wege sind nicht unsere Wege.
    Die harte Lehre wird uns erteilt, daß nicht Linderung der Zweck Seiner Wunder ist, sondern die Demonstration. Die Zufälligkeit ist nicht ihre Schwäche, sondern ihr innerstes Wesen, so wie Ungerechtigkeit (von unserem

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