Der Spezialist: Thriller
Verkehrsstrom wie gelbhäutige Mittelgewichtler; übergewichtige Busse schnauften und pfiffen; Hunde und ihre Besitzer beschnüffelten und beäugten einander; Jogger dehnten beim Warten an der Ampel zum Park sinnlich die Achillessehnen, und Männer mit olivfarbener Haut schlurften durch die Rinnsteine und zogen wie reuige Büßer ihre Hotdog- und Souvlaki-Wägelchen hinter sich her.
Für Geiger bedeutete dies alles pure Stimulanz. Eine Explosion aus Farben und Formen, Geräuschen und Bewegungen. Nicht die subtilsten Nuancen an Farbe, Klang oder Gestik blieben unbemerkt, aber sie lösten nichts in ihm aus. Er nahm alles in sich auf und behielt trotzdem nichts zurück. Er war zugleich Vakuum und bodenloser Abgrund.
In New York lebte er seit fünfzehn Jahren, und seine Ankunft in dieser Stadt stellte den Beginn des Lebens dar, an das er sicherinnern konnte. Am 6. September 1995 war Geiger als ausgewachsener Mann unbestimmten Alters geboren worden, als der Fahrer des Greyhound-Busses ihn an der Endstation, dem New Yorker Hafenamt an der 42nd Street und 8th Avenue, an der Schulter wach rüttelte, nachdem er auf dem letzten Wegstück eingeschlafen war.
Geiger war sich selbst nicht weniger fremd gewesen als die Menschen, an denen er damals auf den Bürgersteigen der Stadt vorbeiging. Er war ein narbiger, schmerzender Leib mit einem unbefrachteten Geist, eine menschliche Maschine ohne Steuermechanismus, die rein instinktiv funktionierte.
Am nächsten Tag blieb er auf den Straßen Harlems kurz stehen und schaute dem Handwerker eines Sanierungsunternehmens zu, der für ein heruntergekommenes Reihenhaus aus rötlich braunem Sandstein einen neuen Fensterrahmen sägte; dann schritt er durch den türlosen Eingang und fragte nach Arbeit. Es geschah impulsiv; er hatte nie darüber nachgedacht. Als der Kolonnenleiter ihn fragte, ob er sich mit der Arbeit auskenne, bejahte er, ohne zu wissen, wie er dazu kam.
Drei Jahre lang machte er Renovierungs- und Sanierungsarbeiten. Er leistete Überstunden, ohne dass ihm eine Gewerkschaft hineinredete, vor allem in Brooklyn und SoHo, wo er heimlich in den Kellergeschossen der Gebäude übernachtete, an denen er arbeitete. Sein Geld sparte er.
Man bezahlte ihn bar, ohne dass es durch die Bücher ging. Keine Sozialversicherungsnummern, keine Abgaben. Zuerst benutzte er den Namen Grey, dann nannte er sich Black. Eines Tages kam er an einer Filiale von Barnes & Noble vorbei und entdeckte im Schaufenster ein Buch, das seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog – einen Bildband über H. R. Giger. Die byzantinische Art der Bilder gefiel ihm, der Name mit den zwei Gs auch. Er fügte um der visuellen Symmetrie willen ein e hinzu und wurde zu Geiger.
Eines Nachts, nach einer Schicht in einem Mietshaus inWilliamsburg, schlief er in einem Verschlag im Keller. Gegen drei Uhr morgens weckten ihn Schritte auf der Treppe, und er lag still, während Taschenlampenkegel über die Tragebalken strichen. Er belauschte das Gespräch zweier Männer, die über ihren Job redeten, während sie ihn ausübten: Hinter einer frischen Wand aus Gipskartonplatten legten sie Kabel für eine Wanze, mit der sie versuchen wollten, belastendes Material zu gewinnen, indem sie abhörten, was ein gewisser Carmine Delanotte sagte.
»Ich habe gehört, Delanotte gehört ein Dutzend von diesen Dingern«, sagte einer der beiden Männer.
»Mein Schwager ist Makler«, sagte der andere. »Er meint, sobald sie die Latinos und die Schwarzen weggeekelt haben, ist hier alles ein Vermögen wert. Billig kaufen, billig sanieren, teuer verkaufen, das ist die Devise.«
»Die Wanze ist Zeitverschwendung. Delanotte ist zu schlau für so was.«
»Vielleicht. Aber ich habe gehört, sie drehen gerade einen von seinen Unterbossen durch die Mangel.«
»Das versuchen sie oft, und meistens erfahren sie doch nichts. Sie stellen mit den Burschen alles Mögliche an – Psychospielchen, Erpressung, gelegentlich sogar Prügel. Aber die Scheißkerle sagen kein Wort.«
»Das muss ein merkwürdiger Job sein.«
»Was?«
»Jemanden zum Reden zu bringen. Harte Burschen weichzuklopfen. Du kannst es ja nicht einfach aus ihnen rausprügeln, oder? Ich meine … ein bisschen unauffälliger muss man schon vorgehen.«
»Es gibt aber Leute, die wissen, wie das geht. Verhörspezialisten. Die wissen, wie man jemanden zum Reden bringt.«
Während die beiden Männer – vermutlich FBI-Techniker – sich weiter unterhielten, lag Geiger in der Dunkelheit und
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