Der Spezialist: Thriller
emotionsfreier Berichte. Corley empfand seinen neuen Patienten als bemerkenswert widersprüchlich – quasi als intelligenten Felsbrocken.
Als Geiger am Ende der ersten Sitzung beschloss, weiterzumachen, stellte er zwei Bedingungen: Erstens wollte er nur über den Traum sprechen, aber nicht über seine Vergangenheit oder das Leben, das er außerhalb von Corleys vier Wänden führte. Zweitens verlangte er einen Schlüssel zum Lieferanteneingang, damit er nicht durch die Lobby musste. Corley hatte sich zurückgelehnt, den grau melierten Bart gekratzt und nach dem Grund gefragt.
»Weil ich weiß, was für mich am besten ist«, hatte Geiger geantwortet.
Es sollte die erste von unzähligen Gelegenheiten sein, bei denen Geigers Tonfall Corley in Bann schlug. So gleichförmig er auch sprach – seine Stimme war tief in einer inneren Festigkeit verankert, die jede weitere Minidiskussion unnötig, ja sinnlos erscheinen ließ. Geigers erste Bedingung, das Gespräch auf die Ereignisse in einer Traumwelt zu beschränken, hatte eine spürbare Einengung der therapeutischen Möglichkeiten zur Folge, und seine Forderung nach einem Hausschlüssel ging weit über das akzeptable Maß hinaus. Kein Patient hatte je um einen Schlüssel gebeten.
Dennoch hatte Corley beidem zugestimmt. Geigers Traum, der Beweis für einen radikalen seelischen Aufruhr, über den der Mann eindeutig keinerlei Kenntnis besaß, hatte wie Benzin gewirkt, das auf die nahezu erloschene Glut von Corleys Leidenschaft gegossen wurde: Corley wollte unbedingt, dass Geiger wiederkam.
Von seinem Balkon aus beobachtete er, wie Geiger den Lieferanteneingang aufschloss und das Gebäude betrat. Corley ließ seine Zigarette in einen Tontopf ohne Blumen fallen und kehrte in sein Sprechzimmer zurück.
***
Corley starrte auf den Notizblock, der auf seinem Schoß lag. Erst in letzter Zeit machte er während der Sitzungen Notizen. Früher hatte er sich zwischen den einzelnen Patienten ein paar Stichpunkte aufgeschrieben und sie am Abend ausgearbeitet. Dann bemerkte er ein leichtes Stottern seines Gedächtnisses – eine leise Verzögerung beim Abruf von Einzelheiten – und versuchte es mit Ginkgoextrakt, hörte aber wieder damit auf, weil er ständig vergaß, ihn einzunehmen.
»Also …«, sagte er nun, »das Netz war fertig, ein Nachtfalter war darin gefangen, und Sie haben alles in Brand gesetzt. Was meinen Sie, worum ging es da?«
Geiger lag auf der Couch und starrte auf die Bücherregale an der Wand. Die literarische Skyline kannte er auswendig – jeden Titel, jeden Autor, jede Umschlagfarbe, jeden Zeichensatz. Mitten auf dem unteren Brett stand das gerahmte Foto eines großen, ausladenden Hauses auf einem Rasengrundstück untermajestätischen Bäumen. Die unkonventionelle Linienführung und das schräge Dach gefielen Geiger. Er hatte Corley in der Vergangenheit danach gefragt und nur knappe Antworten erhalten. Geiger wusste lediglich, dass das Haus hundert Jahre alt war und in Cold Spring stand, eine Autostunde entfernt.
»Was ich meine, worum es da ging?«, sagte Geiger. »Ich bin mir nicht sicher. Was meinen Sie?«
»Es könnte um Kontrolle gegangen sein«, antwortete Corley. »Um Macht.«
Geigers Fingerspitzen trommelten in wechselnden Kombinationen von Tonfolge, Tempo und Rhythmus auf die Couch. Für Corley waren diese Geräusche zu einem Teil der Sitzungen geworden, eine leise Begleitung zu den gesprochenen Wörtern. Während der ersten vier Monate der Therapie hatte Geiger immer nur nach einem Traum-Migräne-Ereignis wegen eines Termins angerufen, und es war das einzige Thema, über das er reden wollte. Allmählich aber hatte sich eine Regelmäßigkeit eingestellt, und er besuchte Corley wöchentlich, manchmal öfter. In letzter Zeit schien Geiger auch nicht mehr ganz so streng zu sein, was seine erste Bedingung betraf. Manchmal schilderte er auch Vorfälle aus dem wirklichen Leben, so wie heute.
»Vielleicht ging es um … Vollendung«, sagte Geiger.
»Interessant.«
»Finden Sie?«
»Durchaus. Sie hätten ›Vernichtung‹ sagen können, was man als das Gegenteil von Vollendung betrachten kann.«
»Ein guter Punkt, Martin.«
Geiger war der erste und einzige Patient, der Corley während seiner dreißigjährigen Berufspraxis je mit Vornamen angesprochen hatte. Als es zum ersten Mal geschah, hatte es elektrische Wellen zwischen ihnen hin und her gesandt, und Corley hatte unruhig seine Sitzposition im Sessel verlagert. Die Anrede mit dem
Weitere Kostenlose Bücher