Der Spiegel aus Bilbao
Zweitens konnte man auf ihrem Grundstück nirgends
zelten. Sie besaß nur ein Viertel Morgen makellose Rasenfläche, der von einer
sorgfältig zurückgeschnittenen Ligusterhecke umgeben und mit einigen Bäumen und
Büschen geschmückt war, die in Kugel- und Kegelform gestutzt worden waren.
Miffy mußte offenbar selbst Mutter Natur beweisen, wer das Sagen hatte.
Wenn jemand Miffy mit der Axt
den Schädel eingeschlagen hätte und nicht Alice B., hätte man den Mord eher
verstehen können. Alice B. war bösartig und verschlagen gewesen, aber nicht
gewalttätig. Miffy dagegen war eindeutig brutal. Jeder, der sich weigerte, auf
sich herum trampeln zu lassen, wurde sofort ihr Erzfeind.
Miffy lag inzwischen mit
unzähligen Personen im Clinch, unter anderem mit vielen Leuten, die das ganze
Jahr hier lebten, denn sie blieb immer sehr lange, selbst wenn der Yachtclub
für den Winter geschlossen wurde und ihre üblichen Trinkkumpane bereits
abgereist waren. War es nicht vielleicht doch möglich, daß Alice B. anstelle
von Miffy ermordet worden war? Oder identifizierte man Alice B. so sehr mit
ihrer Mäzenin, daß es dem Mörder gleichgültig gewesen war, wen von beiden er
erwischte? Das setzte natürlich voraus, daß es ein persönliches Motiv für den
Mord gab, eine Vermutung, für die bisher keine Anhaltspunkte existierten.
Auf die Liste mit den
gestohlenen Gegenständen konnte sich Sarah noch keinen Reim machen. Sie selbst
hielt sich nicht für eine besonders gute Kunstexpertin, doch sie hatte immerhin
eine künstlerische Ausbildung hinter sich und außerdem viel Zeit in Museen
verbracht; darüber hinaus hatte sie in der letzten Zeit eine Menge von Max
gelernt. Außerdem hatte sie selbst einige schöne Dinge geerbt und sich darüber
genau informiert, weil sie einige davon an Antiquitätenhändler hatte verkaufen
müssen, als es ihr anfangs finanziell noch sehr schlecht gegangen war.
Die Liste erschien ihr beinahe
zu gut, um wahr zu sein. Miffy mußte diese Gegenstände tatsächlich besessen
haben, sonst hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, sie kostspielig zu
versichern. Viel mehr Kostbarkeiten konnte sie allerdings nicht haben, sonst
hätte man zumindest etwas davon gesehen, und Sarah würde sich bestimmt daran
erinnern. In ihrer Kindheit hatte sie genug Zeit damit verbracht, Miffys Wände
anzustarren. Der Einbrecher hatte sich offenbar die Rosinen herausgepickt und
die weniger wertvollen Stücke dagelassen, obwohl viele von ihnen größer und
auffälliger waren. Der Dieb mußte ein Fachmann gewesen sein. Warum aber hatte
er dann eine Frau derart brutal mit einer Axt ermordet?
Es war absurd zu glauben, daß
Alice B. nach unten gegangen war, den Einbrecher überrascht und dann einfach
geduldig im Eßzimmer gewartet hatte, bis er nach draußen zum Holzstoß gelaufen
war, die Axt geholt hatte und zurückkam, um sie damit zu erschlagen. Noch
verrückter war die Annahme, daß jemand, der beabsichtigte, kostbare,
zerbrechliche Gegenstände wie den Spiegel aus Bilbao zu stehlen, eine derartig
schwere, unhandliche Waffe bei sich trug. Ein Messer wäre genauso wirksam und
sehr viel einfacher zu handhaben gewesen. Alice B. besaß nämlich unzählige,
teure französische Stahlmesser für ihre Meisterküche. Wie es sich für eine gute
Köchin gehörte, hatte sie stets dafür gesorgt, daß sie scharf wie Rasiermesser
waren und sich griffbereit in dem dafür bestimmten Holzblock an der Wand
befanden. Jeder, der das Haus gut genug kannte, um genau zu wissen, wo sich die
Wertgegenstände befanden, hätte sicher auch irgendein Messer nehmen können —
oder auch das Hackmesser, wenn er lieber hackte als stach.
War es möglich, daß innerhalb
einer Nacht zwei voneinander unabhängige Verbrechen begangen worden waren?
Konnte es sein, daß Alice B. gehört hatte, wie der erste Einbrecher verschwand,
heruntergekommen und genau dem zweiten Verbrecher in die Arme gelaufen war, der
dieselbe Idee gehabt hatte, aber weniger professionell ans Werk ging?
Wahrscheinlicher war es, daß
der gutinformierte Dieb zur Unterstützung einen Komplizen mitgebracht hatte.
Die Gegenstände mußten immerhin weggetragen und verstaut werden, selbst wenn
sie nicht besonders groß waren. Allein der Spiegel aus Bilbao war so kostbar,
daß ihn ein Fachmann aus Sicherheitsgründen wohl nur separat hinaustragen
würde, um ihn nicht zu beschädigen. Schließlich wäre es sinnlos, einen
derartigen Gegenstand erst zu stehlen und ihn dann zu zerbrechen, wenn man
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