Der Spiegel der Königin
Bäumen oder tol l ten über das Gras. Andere junge Frauen, so bekleidet, dass sie kaum weniger schamlos wirkten als die Nackte, tanzten auf der Wiese. Mit einem nackten Mann! Elin ging noch näher an die Leinwand heran. Es duftete nach Öl und Harz – und ein bisschen vielleicht auch nach den zarten Rosen, die den Wolken ihre Farbe liehen. War das tatsächlich ein Kuss, der dort hinten dargestellt war?
»Liederlich!«, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Elin fuhr erschrocken zurück und stolperte dabei über ihren Rocksaum. Eine Hand bewahrte sie gerade noch vor einem uneleganten Sturz.
Der Mann musste soeben die Treppe heraufgekommen sein. Heiß schoss Elin das Blut in die Wangen. Sie knic k ste verlegen und murmelte eine Entschuldigung. Der alte Mann sah sie streng an. Er trug einen spitzen Kinnbart und dunkle Gewänder, die verstaubt und altmodisch wirkten. Sein weißer Spitzenkragen war frisch gestärkt. Die goldenen Ketten, die schwer auf seine Brust fielen, mussten ein halbes Königreich wert sein.
»Entschuldige dich nicht, Mädchen. Es ist kein Wu n der, dass diese italienischen Schamlosigkeiten die Jugend verführen. Nun, es ist immer verlockender, an die Liebe zu denken als an die Pflicht.« Seine scharfen, durchdri n genden Augen, unter denen Tränensäcke hingen, wurden schmal. »Ich habe dich hier noch nie gesehen – bist du die Tochter von Sekretarius Jörnsson ? «
Elin schüttelte den Kopf.
»Elin Asenban«, flüsterte sie. »Aus Uppsala.« Das strenge Gesicht wurde noch eine Spur härter.
»Ach richtig«, sagte er. »Das halbdeutsche Hurenkind, das Mitbringsel aus dem alten Schloss. Ich habe schon von dir gehört. Und was sucht jemand wie du bei den Arbeitsräumen?«
Das war der Ton, den sie von Gudmunds Hof nur zu gut kannte – und trotzdem kam ihr der Satz vor wie eine Ohrfeige.
»Ich … wollte nachfragen … bei der Königin. Oder bei einem Hofmeister. Ob es Arbeit für mich gibt.«
Die buschigen Augenbrauen zogen sich nun noch e n ger zusammen.
»Dass du hier bist, heißt nicht, dass du zum Schloss gehörst und hier im administrativen Flügel herumlaufen darfst, wie es dir passt«, wies der alte Herr sie zurecht. »Das ist kein Kuhstall. Am Donnerstag ist der nächste offizielle Audienztag. Da kommen die Bauern, um der Königin ihr Leid zu klagen. Und auch die Hurenkinder und die anderen Mindergeborenen dürfen dort ihre Fr a gen an sie richten.«
Elin sah den Adligen entsetzt an. Seltsamerweise musste sie genau in diesem Moment an Lovisas B e schreibung des Stockholmer Südtores denken, über dem die Köpfe der Hingerichteten aufgespießt wurden und über Wochen hinweg verrotteten. Sie beeilte sich, ihren Blick zu senken. Der alte Herr wartete immer noch auf eine Antwort. Was würde Lovisa an ihrer Stelle antwo r ten? Höflich bleiben! Nicht durchscheinen lassen, was man wirklich dachte.
»Sie haben Recht«, sagte Elin leise. »Hier, wo ich als Mindergeborene bezeichnet werde, habe ich ganz sicher nichts zu s uchen. Wenn Sie so freundlich wären und mir sagen würden, wie ich diese Räume hier auf dem schnel l sten Weg verlassen kann …«
»Oh, auch noch scharfzüngig. Nun, da kann ich dir helfen. Du gehst diese Treppe dort hinunter – und dann noch ein paar Stufen mehr. Und ganz unten, in der Nähe der Vorratskeller, da wirst du den Ort finden, an dem du dich zu Hause fühlst.«
Wieder besann Elin sich auf alle Lektionen, die Lovisa ihr erteilt hatte, und rang sich ein steifes Lächeln ab.
»Ich danke vielmals für die liebenswürdige Auskunft. Ohne Sie hätte ich den Platz, der mir zusteht, sicher nicht gefunden. Ich wünsche einen angenehmen Tag.«
Obwohl ihre Knie zitterten, machte sie einen übertri e ben tiefen Knicks und ging. Den Blick des alten Adligen spürte sie noch lange wie eine kalte Hand im Genick. Niedergeschlagen blieb sie an der Treppe stehen. Tränen brannten in ihren Augen. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. Halt suchend berüh r te sie einen Wandteppich, auf dem ein Wald abgebildet war. Hurenkind konnte man sie nennen, ja, aber diese Berü h rung hier gehörte ihr nun ebenso gut wie den Adl i gen.
In der Furcht, weiteren adligen Herrschaften zu bege g nen, lief sie die Treppe nach unten. Irgendwann wü r de sie einen Raum, einen Gang erkennen und wissen, wie sie wieder zu Lovisas Kammern zurückkehren konnte. Je weiter sie in die unteren Stockwerke des Schlosses kam, desto mehr Menschen begeg n eten ihr.
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