Der Spiegel der Königin
»Und dir am allerwenigsten!« Ihre Stimme gellte in Elins Ohren. Zorn wallte in ihr auf, so ohne j e den Grund angefahren zu werden. Sie reagierte ohne nachzudenken.
»Ich bedränge Sie nicht!«, schrie sie zurück. »Sie selbst haben zu mir gesagt, man müsse alle Seiten hören, bevor man ein Urteil fällt. Haben Sie das schon verge s sen ? « Sie schnappte nach Luft und wurde sich bewusst, was sie sich gerade gegenüber der Königin herausg e nommen hatte. Ihr Jähzorn verebbte. Zu ihrer Überr a schung ließ sich Kristina auf einen Stuhl fallen und lac h te. Kopfschüttelnd musterte sie Elin und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
»Es ist seltsam – so verschieden wir auch sind – in so vielen Dingen sind wir uns gleich. Du bist rebellisch und hast deinen eigenen Kopf. Wenn ich in dein Gesicht s e he, wenn du lachst oder wütend bist, dann glaube ich manchmal, in einen Spiegel zu blicken. Du bist mein Spiegelbild, Elin. Nur bist du nicht gefangen, so wie ich.«
»Sie sind nicht gefangen. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie befehlen – wir gehorchen.«
»Das sagst du, die tut und lässt, was ihr gefällt, und die sogar meine Befehle missachtet«, spottete Kristina. Ein schmerzlicher Zug huschte über ihr Gesicht. In so l chen Augenblicken erinnerte die Königin Elin an einen Aprilhimmel – von einer Sekunde auf die andere verä n derte sich das Spiel der Wolken, Sonne wechselte mit Regen, Gewitter mit Frühlingsluft und Regenbogen. »Ich beneide dich so sehr, dass du es dir gar nicht vorstellen kannst«, flüsterte Kristina. »Was ist ein König denn a n deres als ein gekrönter Sklave seines Volkes ? «
Tabulae anatomicae
»Lass Lovisa nicht wissen, dass ich dir erlaube, in di e se Bücher zu schauen!« Hampus lächelte verschwör e risch. »Hier sind die Organe besonders schön abgebildet. Und in diesem Buch dort findest du die Skelettdarste l lungen und die Muskelmänner.«
Behutsam zog der Student ein Buch zu sich heran. De humani corporis fabrica, entzifferte Elin den Titel.
Hampus schlug es auf und deutete auf einen Hol z schnitt, der einen ganzen Menschen darstellte – alle r dings ohne Haut. Muskeln hüllten ihn ein und hingen an ein i gen Stellen wie aufgeklappte Lappen vom Körper. Fräulein Ebba hätte sich bei diesem Anblick sicherlich b e kreuzigt.
»In diesem zweiten Buch beschäftigt er sich fast nur mit der Muskulatur. Und hier hast du das Adernetz und die Eingeweide.« Sobald er über Medizin sprach, ve r schwand Hampus ’ Fröhlichkeit. Elin musste lächeln, wenn sie ihn so konzentriert sah. In einigen Jahren würde er seine Patienten als ausgebildeter Arzt mit diesem b e sorgten Ausdruck im Gesicht das Fürchten lehren.
Elin griff nach einem anderen Buch und blätterte in den anatomischen Tafeln. Es waren Kostbarkeiten, die hier auf dem Tisch lagen. Herr Freinsheim hatte Hampus die Folian t en nur in die Hand gegeben, nachdem der St u dent fe i erlich geschworen hatte, sie nicht zu beschädigen. Der Anatomist und Chirurg Andreas Vesalius hatte die B ü cher vor mehr als hundert Jahren drucken lassen. Elin kannte inzwischen die Namen der meisten Organe und wusste um die Beschaffenheit der vier Flüssigkeiten, die das Temperament eines jeden Menschen bestimmten. Bei Frauen überwogen die feuchten und kühlen Elemente, bei Männern dagegen Trockenheit und Hitze. Elin wusste auch, dass sich diese Elemente bei der Königin laut Do k tor van Wullen nicht im Einklang befanden, was sie so männlich und unbeherrscht erscheinen ließ. Die Analyse des Arztes war verwirrend, aber dennoch logisch – bis auf die Tatsache, dass sich Elin fragte, ob ihre eigenen Anlagen auch im Ungleichgewicht waren, denn die mei s ten von Kristinas Gefühlsregungen konnte sie sehr gut nac h vollziehen.
Hampus rückte näher an Elin heran und beugte sich mit ihr zusammen über das Buch. Im Licht der tief st e henden Nachmittagssonne glänzte sein rotbraunes, glattes Haar wie Kupfer. Elin betrachtete verstohlen sein Profil. Ihre Schultern berührten sich leicht, als sich Hampus nach vorne beugte und auf ein Bild zeigte.
»Das wolltest du dir doch ansehen, oder? So sieht ein menschliches Herz aus.« Elin betrachtete konzentriert das Organ. Das hier sollte in Emilias und ihrer Brust schlagen?
»Es sieht nicht viel anders aus als ein Schweineherz«, meinte sie enttäuscht.
»Was dachtest du denn?« Hampus lachte verschmitzt. »Dass es aussieht wie die Zeichnung unter einem
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