Der Spiegel der Königin
zerknirschten Blick zu. Die Königin grinste und ging zu dem Regal mit den Werken der Physik. Der Bibliothekar folgte ihr, jedoch nicht ohne Elin zuvor zu ermahnen, ihre Schreibübungen fortzusetzen. Elin liebte das Lesen, aber das Schreiben fiel ihr nach wie vor schwer. Dafür lernte sie umso eifr i ger Deutsch und saß abends ü ber den unendlich sche i nenden Listen, auf denen die Namen der schwedischen Soldaten erfasst waren. Krist i na hatte sich erbarmt und einige der Akten aus dem alten Schloss in Uppsala nach Stockholm schaffen lassen. Aber mehr als den Namen ihres Vaters und die Stationen seines Kriegswegs, die ihn von der Insel Usedom über unzählige Schlachtfelder und schließlich bis nach Nör d lingen geführt hatten, hatte Elin nicht erfahren. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über sie oder ihre Mutter. Kein einziges Dokument über eine Eheschließung, keinen A n haltspunkt, nichts. Auch der Kurier, den Kristina wegen einer anderen Angelegenheit nach Uppsala schickte und der bei den Gudmunds nac h gefragt hatte, brachte keine neuen Nachrichten.
Die Königin trieb in diesen Monaten die Verhandlu n gen in Deutschland mit aller Macht voran. Die Nächte verbrachte sie nicht selten zusammen mit Elin in der Bi b liothek. Kristina las die Schriften des Philosophen De s cartes und schrieb Briefe an ihn, die sie Elin vorlas. Sie handelten vom Wesen der Liebe, von der Trennung von Geist und Materie und der Existenz und Beschaffenheit der Seele.
Kurz nach Pfingsten gab sich Karl Gustav endlich g e schlagen und legte in der Kirche seinen Eid als Gener a lissimus ab. Mit blassem Gesicht und sichtlich abgem a gert kniete er vor Kristinas Baldachin und sprach den Schwur, den Axel Oxenstierna ihm vorlas. Elin, die in der hintersten Reihe stand, versuchte bei Kristina eine Regung zu entdecken, aber im Gegensatz zu Karl Gustav, der einen durch und durch unglücklichen Eindruck mac h te, wirkte Kristina kühl und nahm seinen Handkuss gn ä dig entgegen. Eine ganz andere Kristina platzte a m se l ben Abend in Elins Gemach und wedelte fre u destrahlend mit einem Brief.
»Wir haben Prag!«, rief sie. »Mein General König s marck hat die Kleinseite von Prag erobert. Und weißt du, was sich im Schloss befindet?«
»Schätze?«
»Und was für welche! Bilder, Skulpturen und Kurios i täten! Vom großen Kaiser Ludwig zusammengetragen, unglaubliche Kostbarkeiten aus ganz Europa! Oh, wir werden eine Bilderkammer einrichten, wie Schweden sie noch nie gesehen hat!«
Seit Elin mit Kristinas Unterstützung in Deutschland nach Informationen über ihre Eltern forschen ließ, hielt sie sich in der Hoffnung auf Postsendungen oft am Hafen Skeppsbron und bei der Schleuse zur Südstadt auf. G e meinsam mit Hampus passierte sie die Landungsstege, die unzähligen Bootshäuser und atmete den Duft von gerösteten Heringen ein. Die verschiedensten Güter wu r den von den Mälarschiffen auf die Ostseeschiffe umgel a den – und umgekehrt. Durch Kristinas Verhandlungen und neue Zollverordnungen, die im Reichstag beschlo s sen worden waren, bekam der Überseehandel Aufwind. In allen möglichen Sprachen wurden Geschäfte abg e schlossen, Elin hörte Verhandlungen auf Dänisch, Fl ä misch und auch viele französische Sätze. Einmal ve r nahm sie eine sanfte Stimme und drehte sich überrascht um. Aber es war nicht Henri.
Immer wieder schwemmte die Ostsee Kriegsheimke h rer aus Deutschland an – abgerissene, vom Krieg g e zeichnete Männer, nach Pfeifentabak und Schweiß ri e chend, viele von ihnen Krüppel mit ausdruckslosen A u gen, die nichts so sehr herbeisehnten wie ein langweil i ges, ruh i ges Leben in ihrer Kate. Elin ertappte sich dabei, wie sie die Gesichter dieser Männer eingehend studierte – und sich vorstellte, ob ihr Vater ebenso ausgesehen hatte.
»Woran denkst du?«, flüsterte Hampus ihr zu, als sie zu einem Schiff aus Deutschland unterwegs waren. »G e fällt dir etwa dieser schwarzhaarige Soldat, den du so anstarrst?« Elin gab Hampus einen Stoß in die Seite. Sie ärgerte sich, dass sie errötete, denn nun hatte der Soldat das Gespräch bemerkt und schenkte ihr ein überraschtes, hoffnungsvolles Lächeln.
Mit Elin und Hampus strömten unzählige Menschen zum Hafen. Das riesige Transportschiff hatte die Rahs e gel auf Halbmast gesetzt und lief langsam auf die Anl e gestelle zu. Möwenschreie hallten über das Wasser. Trauben von Menschen hatten sich an der Reling ve r sammelt und winkten den am Ufer Stehenden zu. Kau
Weitere Kostenlose Bücher