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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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war, darum ist nichts mehr, wie es war. Jetzt weiß ich es.
    Jemand weiß es jetzt, aber er weiß es zu spät, denn nun kann er schon nicht mehr fortgehen. Er wird sich nicht mehr von der Stelle rühren. Er wird an diesem Fleck in der Finsternis verharren wie ein Stein.
    Seine Hand tastet nach einer Uhr, die er schon lange nicht mehr hat. Aber wenigstens fühlt er jetzt seine Hände.
    Diese Nacht, denkt er, kann doch nicht ewig dauern. Es muß bald auf den Morgen zugehen. Falls es überhaupt noch einmal morgen wird.
    Die Kälte nimmt zu. Sie dringt in ihn ein, tiefer und tiefer. Er spürt sie in seinen Knochen. Er wehrt sich nicht gegen sie. Er ist einverstanden. Er überläßt sich ihr. Aber er wird sich nicht niederlegen, er steht aufrecht. Er wartet.
    Also doch, denkt er nach langer Zeit, nun tagt es also doch. Und während er es denkt, begreift er, daß er selbst es ist, der die Welt um sich erschaffen muß, damit sie da ist.
    Über dem Waldrand jenseits des Flusses entsteht ein heller Streif am Himmel, blaßgrün, darüber langgestreckt eine Wolke, schwer und
    dunkel wie ausgelaufene Tinte. Kein Vogelruf, kein noch so fernes Geräusch. Totenstille. Die Landschaft liegt erstarrt. Sogar das Wasser des Flusses steht grau und reglos wie kaltes Blei.
    Von ihm also hängt es ab, was da sein wird, was geschehen wird, und doch ist es nicht so, daß er schon begreift, was er wahrnimmt.
    Vor dem Waldrand sieht er die Frau, die dort sitzt, groß und grau wie ein Felsblock. Sie strickt und strickt ohne Pause und ohne aufzublicken.
    Sein ratloser Blick wandert hinüber zu dem steinernen Brückenbogen, der sich über den noch immer reglosen Fluß krümmt. Und nun erschrickt er und fürchtet sich. Dort stehen zwei Vermummte, ein großer und ein kleinerer, als hätten sie dort schon immer gestanden in ihren langen, graubraunen Mänteln, Köpfe und Gesichter in Tücher gewickelt, die Gewehre an Gurten über die Schultern gehängt. Er weiß nicht, wer diese beiden sind, doch er weiß, sie warten nur darauf, daß seine Frist abgelaufen ist. Dann werden sie über die Brücke kommen und sein Haus niederbrennen. Mein Haus, denkt er, nun endlich muß ich mein Haus sehen.
    Er sieht es.
    Es steht vor ihm auf dem freien Feld, wenige Schritte entfernt. Aber er erkennt es nicht. Er ist sicher, es nie zuvor gesehen zu haben. Nichts verbindet ihn mit diesem Gebäude, nicht die flüchtigste Erinnerung, nicht das zaghafteste Gefühl, heimgekehrt zu sein. Er findet es weder schön, noch häßlich, nur fremd. Es gleicht einem großen Taubenschlag. Für ihn ist es unbewohnbar. Es geht ihn nichts an.
    Er versucht, es auszulöschen, um ein anderes an seine Stelle zu setzen, aber es bleibt, wo es ist. Es gelingt ihm auch nicht, etwas an ihm zu verändern. Statt dessen fühlt er, daß er gerade um dieses Hauses willen zur Verantwortung gezogen wird. Er hat Schuld auf sich geladen, schwere Schuld offenbar. Er zweifelt nicht daran, denn er fühlt immer deutlicher ihr Gewicht. Was hat er getan?
    Er hat dieses Haus, sein Zuhause, verleugnet und im Stich gelassen. Er hat es verraten, weil er anderswo ein großer Mann geworden ist, ein gefürchteter Töter himmlischer Boten, ein berühmter Engeljäger. Denn auf diese Art Beute verstand er sich wie kein anderer. Wieviele Engel hat er erlegt und ausgewaidet und ihre schimmernden Schwungfedern und kostbaren Bälger an die mächtigen Herren der entzauberten Welt und ihre noch mächtigeren Damen verkauft, die ihre Festgewänder damit geschmückt haben! Er hat Netze ausgelegt und Fallen gestellt, und seine Geschosse haben stets so getroffen, daß das kostbare Federkleid nicht beschädigt wurde. Er ist reich geworden damit. Doch dann kam das Heimweh, und er hat alles zurückgelassen, um nach Hause zurückzukehren. Und nun steht er hier, fremder als in jeder Fremde, und in seiner langen Abwesenheit haben die Ratten von seinem Haus Besitz ergriffen, haben sich darin eingenistet und ausgebreitet wie eine tödliche Seuche. Das ist es, was er verschuldet hat.
    Und nun soll er es bis Tagesanbruch reinigen, soll es von der Rattenpest heilen, sonst wird es niedergebrannt, und er selbst wird vernichtet werden.
    Ich mache mir nichts vor, denkt er, es gibt keine Hoffnung. Ich hätte niemals zurückkommen dürfen.
    Selbst wenn es ihm möglich wäre, ins Innere des Hauses zu dringen, wie soll er es fertigbringen, Hunderte, vielleicht Tausende von Ratten zu töten - und das mit bloßen Händen, denn seine Waffen hatte er nicht

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