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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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beständig auf und nieder.
    Die Patientin, die daraufsaß, eine ältere Dame, war ungemein dick, ihr stark geschminktes Gesicht mehlweiß. Mit einer Art von unansprechbarer Besessenheit stopfte sie fortwährend allerlei Nahrungsmittel in sich hinein, welche auf einem fahrbaren Instrumententisch vor ihr bereitgestellt worden waren: Torten- und Fleischstücke, Würstchen, Artischocken und kleine Happen panierten Fisches. Bei jedem Bissen, den die Person hinunterschlang, wurde der Sessel wie durch eine Katapultvorrichtung in die Höhe geschossen und fiel mit dem Getöse einer Dampframme wieder zurück. Je größer der Bissen war, desto höher flog der Sessel mit der Dame, ganz so, als würde sie durch die Nahrungsaufnahme nicht schwerer, sondern leichter.
    Da außer ihm und der fetten Dame auf dem Sessel niemand im Räume war und es auch nicht wahrscheinlich schien, daß vorerst jemand zur Kontrolle käme, wagte der junge Assistenzarzt schließlich, trotz des strikten Verbotes, die halblaute Frage: «Zu welchem Zweck unterzieht man Sie dieser Behandlung?»
    Er mußte seine Frage noch einige Male wiederholen, ehe die Dame ihn hörte und für einen kurzen Augenblick ihre Tätigkeit unterbrach.
    «Ich leide», sagte sie und wandte sich ihm, der halb hinter ihr saß, mühsam zu, «an progressiver Gravitation. Nur ständiges Essen erleichtert mich. Wenn ich auch nur einige Sekunden damit aufhöre, so wie jetzt, nimmt sofort mein Gewicht zu. Es ist eine Störung der Erdenschwere, verstehen Sie? Einige Stunden völliger Enthaltsamkeit würden dazu führen, daß mein Knochengerüst unter der Last meines Fleisches zusammenbräche. Es widersteht mir selbst, aber nur ständiges Essen erleichtert mich.» Rasch, als habe sie etwas versäumt, schlang sie einen neuen Bissen hinunter, und das Spiel des auf-und niedertanzenden Sessels begann von neuem.
    «Man wird Ihnen hier gewiß helfen», murmelte der junge Arzt, «bald wird es Ihnen schon viel besser gehen, Sie werden sehen.» Es stimmte ihn traurig, daß er, trotz ihres offenkundigen Leidens, kein Mitgefühl für die fette Person aufbringen konnte.
    Da sie nicht antwortete, erhob er sich nach einer Weile, um die Apparatur genauer zu studieren. In der Nähe des Bodens, zwischen der Nickelstange und der Rückseite des beweglichen Sessels, befand sich eine Vorrichtung, die seine Aufmerksamkeit in besonderem Maße fesselte. Es war ein ziemlich großer gläserner Zylinder, in welchem wie in einer Luftpumpe ein Kolben im Rhythmus des Sessels auf und nieder ging, vermutlich, um dessen allzu harten Aufprall beim Zurückfallen zu dämpfen. Im Inneren dieser gläsernen Röhre saß ein Tier.
    Der junge Arzt war nicht in der Lage, dieses Geschöpf zu klassifizieren, doch war es ohne Zweifel das häßlichste, das er je gesehen hatte. Es glich einer besonders großen Vogelspinne, denn es bestand aus einem kugelförmigen Leib und einer Unmenge schwarzbehaarter, sehr beweglicher Gliedmaßen, doch waren diese nicht nach Insektenart steif und durch Gelenke unterteilt, sondern vollkommen weich wie bei einem Kraken. Bei jedem Schlag, den das Tier durch den herabsausenden Kolben versetzt bekam, ringelten sich seine unzähligen Extremitäten schmerzerfüllt und verknäulten sich. Immerfort versuchte es, wenn auch schon halb betäubt, aus dem schrecklichen Gefängnis zu entrinnen, doch fand es nirgendwo einen Ausweg.
    Eine Weile beobachtete der junge Arzt das malträtierte Geschöpf und stellte allerlei Überlegungen darüber an, inwiefern wohl eine Notwendigkeit vorliegen mochte, die Qual der Patientin durch die Qual dieser Kreatur zu lindern. Nicht etwa, daß das Tier um seiner selbst willen Mitleid in ihm erregt hätte - dazu war es viel zu abscheulich -, vielmehr war es seine grundsätzliche Einstellung, ein gewisser sachlicher Respekt gegenüber dem Daseinsrecht eines jeden Lebewesens, wie immer es auch beschaffen sei, welche ihn alle unnötige Tortur verabscheuen ließ. Und da er keinerlei Grund dafür sehen konnte, das Tier einer solchen Folter auszusetzen, fühlte er schließlich doch Erbarmen mit ihm, gerade weil es so unaussprechlich häßlich war.
    «Hören Sie auf!» schrie er unvermittelt die fette Dame an, die noch immer Bissen nach Bissen hinunterwürgte. «So hören Sie doch endlich auf!» Aber das Weib schien ihn nicht zu hören, vielleicht wollte es auch einfach nicht, jedenfalls schenkte es seinen Worten nicht die geringste Beachtung, sondern stopfte sich weiterhin wie besessen

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