Der Spiegel im Spiegel
ich außer uns niemand gesehen.»
Er klopft, das blasse dicke Kind erwacht und öffnet das Schiebefensterchen.
«Habt ihr denn keine Türen», fragt der Mann, «durch die ihr heraus und hinein könnt?»
«Nein», erwidert das Kind und errötet flüchtig, als habe es etwas Beschämendes eingestanden. Jetzt mischt sich die Frau ins Gespräch: «Dann hat man wohl die Würfel um euch herumgebaut? Oder wie seid ihr da hineingekommen?»
Das dicke Mädchen nickt traurig. «Man hat sie um uns herumgebaut. Aber man hat nicht damit gerechnet, daß wir alle noch wachsen. Wir sind nämlich eine Familie, obwohl man uns das vielleicht nicht ansieht.»
«Aber da könnt ihr ja nie miteinander reden!» wirft die Frau mitfühlend ein.
«Das ist nicht das Schlimmste», meint das Kind, «weil wir doch nur immer streiten würden. Das Schlimmste ist, daß wir nie in die Ausstellung gehen können, obwohl wir es doch sind, die die Eintrittskarten verkaufen. Ohne uns könnte überhaupt niemand hinein.»
«Ist dir das denn so wichtig?» will die Frau wissen. «Ich meine, du bist doch noch klein - oder jedenfalls jung. Glaubst du, daß du alles verstehen könntest?»
«Verstehen...», das Kind zuckt die Achseln, «ich möchte einfach wissen, was es da zu sehen gibt.»
«Wir können dir ja davon erzählen», schlägt die Frau vor, «wenn wir wieder herauskommen.»
Das Kind schaut sie dankbar an.
«Aber dazu», meint der Mann, «müssen wir natürlich erst mal hinein. Wir brauchen zwei Eintrittskarten, nicht wahr?»
«Ja», sagt das dicke Kind und wirkt schon wieder überaus schläfrig. Darum fährt er rasch fort: «Was würdest du denn tun, wenn du dich frei bewegen könntest?»
«Ich würde eben hineingehen, um herauszukriegen, warum wir hier eingeschlossen sitzen müssen.»
«Aber wenn du dich frei bewegen könntest, dann würdest du ja nicht hier eingeschlossen sitzen und hättest also gar keinen Grund hineinzugehen.»
Das dicke Kind sieht den Mann überrascht an.
«Richtig!» murmelt es. «Dann kann ich ebensogut hier sitzen. Daran habe ich noch nie gedacht.»
«Na siehst du!» sagt die Frau und lächelt freundlich. «Zwei Eintrittskarten für uns, bitte!»
«Und einen Katalog!» fügt er hastig hinzu.
«Zwei Erwachsene ... ein Katalog», wiederholt das dicke Kind geschäftsmäßig. «Hier, bitte sehr.»
Es schiebt die zwei Billets und den Katalog aus dem Schalter, schließt das Fensterchen, ohne Geld genommen zu haben, und schläft mit zufriedenem Gesicht wieder ein.
Mann und Frau sehen sich an, stoßen gleichzeitig einen erleichterten Seufzer aus und gehen durch die große Eingangstür in das fensterlose Gebäude hinein. Darüber steht in großen Lettern der Titel der Ausstellung: Gegenstände.
Im ersten Raum sehen sie sich einem Schaf gegenüber, das mit hängendem Kopf und hängenden Ohren in einer Ecke steht.
Er schlägt im Katalog nach und findet den Titel Schaf. Er liest ihn halblaut vor.
«Es sieht fast natürlich aus, findest du nicht?» fragt die Frau ängstlich.
Das Schaf blökt leise und betrübt. Sie klammert sich am Arm ihres Mannes fest und flüstert: «Laß uns schnell weitergehen!» Im nächsten Raum finden sie/eine Glasvitrine, in welcher ein Staubwedel lehnt. Der Mann schlägt wieder nach und findet den Titel Staubwedel. Und wieder liest er ihn halblaut vor.
Die Frau geht um die Vitrine herum und betrachtet das Ausstellungsstück von allen Seiten.
«Stimmt!» sagt sie schließlich und nickt überzeugt.
Das anschließende Zimmer ist knöcheltief mit Wüstensand gefüllt. Und natürlich ist der Titel des Werkes Wüstensand.
Sie stapfen hindurch.
Als nächstes betrachten sie eine brennende Fackel mit dem Titel Brennende Fackel, die in einem Gestell zusammen mit Äxten und Beilen steckt. Danach kommt ein sehr langes Netz mit dem Titel Netz, welches schräg durch den ganzen Saal gespannt ist. Im Raum danach steht eine Standuhr mit dem Werktitel Standuhr.
Hier treffen Mann und Frau auf einen anderen Besucher. Es handelt sich um einen Kollegen des Mannes, der sie beide herzlich begrüßt. Er hat einen lebenden Hummer bei sich, den er wie eine etwas sperrige Sache unter dem linken Arm trägt. Zunächst redet man ein wenig über dies und das^dann fragt der Kollege unvermittelt: «Wie gefällt Ihnen die Ausstellung?» Mann und Frau wechseln einen unsicheren Blick und murmeln etwas von «noch kein endgültiges Urteil» und «gerade erst gekommen». Der Kollege unterbricht sie. «Also es tut mir leid»,
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