Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
Vom Netzwerk:
voll.
    Nun packte den jungen Arzt plötzlich Zorn und Empörung. Er ergriff irgendein nickelglänzendes Gerät, das zufällig in seiner Reichweite lag, und zerschmetterte mit mehreren kräftigen Schlägen den gläsernen Zylinder. Sofort blieb der Sessel stehen, was die Dame indessen kaum beachtete. Sie warf dem jungen Mann nur, mit vollen Backen kauend, einen tadelnden Blick aus den Augenwinkeln zu. ließ sich jedoch in ihrer Mahlzeit nicht unterbrechen.
    Das spinnenartige Geschöpf war inzwischen zur Tür gelaufen. Der junge Arzt öffnete diese und ließ es hinausschlüpfen. Flüchtig kam ihm in den Sinn, daß er für seine impulsive Tat mit gehörigen Strafen rechnen mußte, doch war es nicht eigentlich dies, was ihn dazu trieb, sich rasch aus dem Zimmer zu entfernen. Vielmehr hatte ihn unversehens eine ihm selbst nicht recht erklärliche Neugier gepackt zu beobachten, wohin das Geschöpf so eilig strebte - nun, da es seinem eigenen Antrieb folgen konnte. Mit erstaunlicher Zielbewußtheit hastete es auf seinen unzähligen Beinen durch die Gänge des Instituts auf die nächtliche Straße hinaus und dort weiter, immer weiter, als wolle es um jeden Preis auf kürzestem Wege zu einer bestimmten Stelle.
    In halb gebückter Haltung, um es in der Dunkelheit nicht aus dem Auge zu verlieren, lief der junge Arzt hinter dem Tier her, durch stille Seitengassen und Hinterhöfe, über Brücken und Treppen, unter Torbögen und Hochbahntrassen hindurch, bis das Geschöpf endlich in dem nur schwach erleuchteten Flur eines armselig aussehenden Mietshauses sitzen blieb. Es machte keinerlei Anstalten mehr, sich weiter zu bewegen.
    Der junge Arzt blickte suchend umher. Er konnte sich nicht vorstellen, was das Geschöpf wohl an diesen Ort gezogen haben mochte. Aber vielleicht, so sagte er sich, hatte der Eindruck ihn getäuscht, und es war gar nicht diese besondere Stelle, die das Tier angezogen hatte, sondern hier endete ganz einfach seine Flucht, möglichst weit fort von dem schrecklichen gläsernen Gefängnis. Ja, gewiß war es so. Er unternahm nichts, um es neuerlich aufzuscheuchen, verhielt sich vielmehr ganz still und wartete ab, was geschehen würde. Er hatte noch nicht lange so gestanden, als er vom entgegengesetzten Ende des dunklen Ganges her ein zweites Tier herbeieilen sah, etwa von gleicher Größe wie das spinnenartige, doch ganz anders von Gestalt. Es glich eher einem dicken Käfer mit mächtigen Greifzangen. Fast gleichzeitig tauchte noch ein drittes Lebewesen auf, das die beiden vorigen an Größe ein wenig übertraf und entfernte Ähnlichkeit mit einer Heuschrecke zeigte. Reglos saßen die drei Tiere nun beisammen, die Köpfe einander zugewandt, so daß ihre Körper gleichsam einen dreistrahligen Stern auf dem Fliesenboden bildeten. Die Anwesenheit des Beobachters schien sie nicht zu bekümmern.
    Lange Zeit geschah nichts weiter, und der junge Arzt begann sich über seine eigene Geduld zu wundern. Er hätte selbst nicht sagen können, was eigentlich seine Erwartung gespannt hielt. Als er sich schließlich, mehr aus Vernunft, entschlossen hatte, nun doch fort zu gehen, horchte er plötzlich auf.
    Ein eigentümlicher Klang, kaum wahrnehmbar, lag in der Luft, und der Lauschende wurde sich bewußt, daß er ihn, ohne darauf zu achten, schon seit geraumer Weile vernahm. Nun aber, da er ihm seine Aufmerksamkeit zuwandte, hörte er immer deutlicher und klarer einen ganz unirdisch zarten und reinen Dreiklang von solcher Schönheit, daß ihm Tränen des Entzückens in die Augen traten. War es denn möglich, daß diese drei Kreaturen, die so widerwärtig anzusehen waren, miteinander musizierten? War es möglich, daß sie, die dort in der dunklen und schmutzigen Ecke beisammen saßen, diesen reinsten aller Akkorde hervorbrachten? Mein Gott, dachte der junge Arzt entrückt, mein Gott, was für ein unbeschreibliches Glück!
    Als die Morgendämmerung anbrach, entschwand die Musik, obgleich die Tiere reglos sitzen blieben. Der junge Arzt trat, noch immer ein wenig benommen, auf die Straße hinaus. Vor ihm lag im ersten Frühlicht eine kleine Grünanlage mit zertretenem Gras. Auf den Bänken saßen etwa zehn Menschen, jeder in sich versunken, als hätten auch sie die ganze Nacht dem Dreiklang gelauscht. Bäuerliche Gesichter waren es, die jetzt eines nach dem anderen aufblickten und dem jungen Arzt lächelnd, aber irgendwie feierlich zunickten. Die Männer trugen Pelzmützen und Barte, die Frauen Kopftücher, alle waren in weite Kittel

Weitere Kostenlose Bücher