Der Spiegel im Spiegel
ein Ei mit einem welken Blatt daneben, jeweils mit Ei und Blatt betitelt, aber es gelingt ihnen nicht, das eben Gelernte darauf anzuwenden. Auch ein Fernrohr aus schwerem Messing, das den Titel Fernrohr trägt, erschließt ihnen nicht seine Bedeutung.
Sie sind ein wenig entmutigt und gehen an den restlichen Ausstellungsstücken ohne großes Interesse vorüber. Einmal bleiben sie noch vor einer Peitsche stehen, deren Schnur um den kurzen Stiel gewickelt ist. Der Titel heißt Zirkuspeitsche. Aber auch hier finden sie nicht die verborgene Mitteilung heraus.
«Komm!» sagt der Mann, «mir scheint, es ist hier irgendwo ein Brand ausgebrochen.»
Tatsächlich hat sich der Raum, in dem sie sich gerade befinden, in kürzester Zeit mit Rauch gefüllt. Soeben kommen zwei Ärzte in weißen Kitteln, sterile Masken vor Mund und Nase, eiligen Schrittes aus den Schwaden. Zwischen sich transportieren sie auf einer Trage einen Feuerwehrmann, dessen Uniform qualmt. Sein linkes Bein ist in Höhe des Knies weggerissen, der Stumpf mit blutigem Verbandzeug umwickelt.
Mann und Frau halten sich schützend Taschentücher vor den Mund und streben dem Ausgang zu. Sie erreichen ihn mit rußgeschwärzten Nasen und geröteten Augen. Ihre Kleider sind voller Brandlöcher, ihre Haare angesengt.
Vor dem Zementwürfel, in dem das dicke kleine Mädchen sitzt, halten sie an, um Luft zu schöpfen. Das Kind öffnet das Fensterchen, und der Mann erkundigt sich, was denn eigentlich vorgefallen sei.
«Eine Bombe ist explodiert», sagt das Kind, «haben Sie denn den Knall nicht gehört?»
«Uns ist eigentlich nichts aufgefallen», meint der Mann.
«Das ist doch seltsam», fügt die Frau hinzu, «ist denn schon wieder Krieg?»
«Noch nicht», erklärt das Kind etwas altklug, «es war vorerst nur ein Attentat auf den Ministerpräsidenten von Ndongu.»
«Soso», sagt der Mann und wischt sich mit seinem schmutzigen Taschentuch die tränenden Augen, «ich wußte gar nicht, daß er hier ist.»
«Das ist er auch nicht», antwortet das dicke Kind, «Gott sei Dank! Er befindet sich zur Zeit auf dem Kongreß in Karan-el-Zur.»
«Ach so», meint die Frau, «nun, dann ist ja wohl weiter nichts passiert.»
«Nein, zum Glück nicht», versetzt das Kind, «bis auf einen Briefträger, der in die Luft geflogen ist. Aber das war natürlich nur ein Versehen.»
«Es war ein Feuerwehrmann», berichtigt der Mann.
«Nein, ein Briefträger», beharrt das Kind. «Aber er ist selbst schuld. Er hätte eigentlich Briefe austragen sollen, statt sich hier herumzutreiben. Darum wird sein Tod als ungültig betrachtet.»
Mit diesen Worten schließt das dicke Mädchen sein Schiebefensterchen und schläft wieder ein.
«Wozu sollten wir dem Kind eigentlich berichten, was es zu sehen gibt?» fragt die Frau etwas verstimmt. «Es weiß ja sowieso alles besser.»
Sie gehen an dem fensterlosen Gebäude vorbei, aus dessen Eingang noch immer Rauch quillt. An der Mauer stehen die zwei Ärzte, klopfen die Wand ab und horchen mit ihren Stethoskopen.
«Merkwürdig!» sagt der eine, während er sich die Stöpsel aus den Ohren zieht, «die Explosion pflanzt sich im Inneren der Mauer langsam, aber unaufhaltsam fort, wie es scheint.» Der andere schüttelt den Kopf und murmelt: «Ein völlig unerwarteter Lateraleffekt.» Mann und Frau gehen tief in Gedanken versunken heimwärts. Nach einer Weile sagt er: «Es war ein Feuerwehrmann. Ich bin da ganz sicher.»
Sie nickt beipflichtend, und er fährt fort: «Warum machen sie es uns heutzutage so schwer?»
Sie hängt sich bei ihm ein, verschränkt ihre rußgeschwärzten Finger mit den seinen und sagt, plötzlich von einer unerklärlichen Traurigkeit befallen:
«Es ging vielleicht gar nicht gegen uns. Sie haben es sicher nicht bös gemeint. Aber du hast recht, sie sollten nicht solche Geschichten machen.»
DEM JUNGEN ARZT WAR GESTATTET WORDEN,
in einer Ecke des Behandlungszimmers Platz zu nehmen und den Vorgang zu beobachten, doch hatte man ihm eingeschärft, auf keinen Fall mit der Patientin zu sprechen oder sich anderweitig störend bemerkbar zu machen. Grübelnd betrachtete er die Maschinerie, deren Sinn er nicht einzusehen vermochte.
Es handelte sich um einen Sessel von der Art, wie sie bei Zahnärzten oder Barbieren Verwendung finden, nur mit dem Unterschied, daß an seiner Rückseite eine vernickelte Stange senkrecht zwischen dem Fußboden und dem Plafond des Behandlungszimmers festgeschraubt war. An dieser Stange glitt der Sessel
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