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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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sagt er ungeniert laut, «es tut mir wirklich leid, aber ich muß offen sagen, ich kann mit dieser Art Kunst einfach nichts anfangen. Ich finde, es ist eine Zumutung!»
    «Kunst?» fragt der Mann aufs höchste erstaunt, «ach, ist es denn eine Kunstausstellung?» Der Kollege starrt ihn ebenso perplex an. «Wieso, ist es denn keine? Dann bin ich ja auf die völlig falsche Ausstellung gegangen! Aber was ist das denn hier?»
    Es entsteht eine kleine peinliche Pause, dann erkundigt sich der Mann, nur um irgend etwas zu sagen, nach dem Hummer und ob der Kollege ihn kochen wolle.
    «Nein, nein!» antwortet der fast entrüstet, «das Tierchen ist mir vor ein paar Tagen zugelaufen, aber ich darf es nicht zu Hause lassen, weil meine Frau mir gedroht hat, es aus dem Fenster zu werfen, sobald ich sie mit ihm allein lasse. Sie behauptet, dieses harmlose Geschöpf beschädigt unsere Polstermöbel. Selbstverständlich eine ganz haltlose Anschuldigung, die nur darauf abzielt, mir die Freude zu verderben. Sie kennen ja meine Frau! Jedenfalls bin ich dadurch gezwungen, das Tier nun immerzu mit mir herumzutragen, obgleich das natürlich auf die Dauer auch keine Lösung ist.»
    Mann und Frau versichern dem Kollegen ihr Bedauern über die erlittenen Ungelegenheiten und geben ihrer Hoffnung Ausdruck, daß sich doch noch recht bald alles zum Guten wenden möge. Danach verabschieden sie sich und nehmen ihren Gang durch die Ausstellung wieder auf.
    Sie besichtigen angelegentlich einen großen hölzernen Taubenschlag mit dem Werktitel Taubenschlag. Längere Zeit verweilen sie auch vor einem Bündel von Dynamitstangen, die in fettiges Papier gewickelt und durch Klebestreifen zusammengehalten sind. Einige verschiedenfarbige elektrische Drähte verbinden das Bündel mit einem tickenden Wecker. Laut Katalog trägt das Werk den Titel Bombe mit Zeltzünder.
    «Hübsch», sagt die Frau ein wenig unsicher. Ihr Mann macht «pscht!» und schaut sich nach ein paar anderen Besuchern um, die gerade eintreten, denn er hat das Gefühl, daß dieses Urteil irgendwie unangemessen ist.
    Im nächsten Raum finden sie mit großen roten Buchstaben das Wort grün an die Wand gemalt. Erstaunlicherweise heißt diesmal der Titel nicht grün, wie der Mann vermutet hatte, sondern Buchstaben.
    «Originell», murmelt er, und sie nickt und fügt hinzu:
    «Aber treffend, nicht?»
    Dann gelangen sie in einen Raum, in dem es übelkeiterregend stinkt, denn dort steht ein großer Behälter voller Fischaugen. Der Titel ist, wie vorauszusehen war, Fischaugen.
    Die Frau kann den Geruch nicht aushaken, und so gehen sie rasch weiter.
    Mitten im anschließenden Raum steht auf einem hölzernen Podest eine Blechbüchse. Es handelt sich um eine ganz gewöhnliche, zylinderförmige, allseits geschlossene Blechbüchse mit dem Titel Blechbüchse.
    Davor steht, reglos in den Anblick versunken, ein kleines Kind ganz allein.
    «Na, Kleiner?» fragt die Frau mütterlich, «haben deine Eltern dich verloren?»
    Sie beugt sich zu ihm herunter und erschrickt ein wenig, denn der Kleine hat einen schwarzen Vollbart. Nach kurzem Gespräch stellt sich heraus, daß es sich um einen namhaften Kritiker handelt.
    «Dies», sagt der Kritiker und zeigt mit einem winzigen Fingerchen auf die Büchse, «ist ein Meisterwerk!»
    Der Mann will die Gelegenheit, sich zu bilden, nicht ungenützt vorübergehen lassen und fragt:
    «Nach welchen Kriterien beurteilen Sie ein Werk?»
    «Zunächst», erklärt der bärtige Kleine, «frage ich mich, was der Künstler uns mitteilen wollte. Und dann entscheide ich, ob die Mittel, die er dazu verwendet, seiner Mitteilung adäquat sind. Diese allseits geschlossene Büchse drückt die vollkommene Unmöglichkeit jeglicher Kommunikation aus. Nichts Inneres dringt nach außen, nichts von außen erreicht das Innere. Der Künstler teilt uns auf höchst eindrucksvolle Weise mit, daß es keine Möglichkeit der Mitteilung für uns gibt. Und das Mittel dieser Mitteilung ist völlig überzeugend.»
    «Liegt da nicht irgendwo ein Widerspruch?» wagt der Mann vorsichtig einzuwenden.
    «Selbstverständlich!» antwortet der Kleine verärgert, «sonst wäre es ja kein Kunstwerk!»
    «Also ist es doch eine Kunstausstellung!» sagt die Frau.
    Der Kritiker blickt irritiert zu ihr auf, faßt sich aber rasch und erwidert: «Das ist völlig irrelevant.»
    Mann und Frau bedanken sich für die wichtige Belehrung und gehen rasch weiter. Sie finden im nächsten Raum eine Krücke mit dem Titel Krücke und

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