Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
Vom Netzwerk:
aus rohem, ungefärbtem Sackleinen gekleidet. Als der junge Arzt vor sie hintrat, sah er, daß diese Kittel über und über mit Schriftzeichen bedeckt waren, aber es waren Zeichen einer ihm unbekannten Schrift. Er hielt sie für kyrillisch.
    «Namen?» fragte er und deutete auf die Buchstaben, «eure Namen?»
    Die Angesprochenen nickten lächelnd, aber so, als hätten sie die Frage nicht verstanden, sondern nickten nur aus Freundlichkeit.
    «Woher kommt ihr?» fragte der junge Arzt und sprach jedes Wort langsam und deutlich aus.
    Ein Alter mit weißem Bart antwortete, aber es war eine fremde Sprache. Plötzlich krähte ein Hahn. Der junge Arzt blickte sich erstaunt um, und die Bauern lachten gutmütig über seine Verwunderung, dabei zeigten sie auf ein Weib, das am Ende ihrer Reihe saß. Der junge Arzt ging zu ihr hin und sah, daß sie ihren Kittel weit geöffnet hatte, so daß ihre mächtigen Brüste entblößt waren. Auf der Haut des Busens war eine Ikone gemalt, kostbar und zum Teil mit Blattgold belegt.
    Wieder war der heisere Hahnenschrei zu hören, und die Bauern lachten. Das Weib mit dem offen dargebotenen Busen machte eine abwehrende Handbewegung gegen die Lachenden, dann zog es hinter der Bank einen Sack hervor, öffnete ihn und hielt ihn so dem jungen Arzt hin. Er warf einen Blick hinein und sah, daß der Sack etwa zur Hälfte mit Eisstücken gefüllt war. Auf diesen saß ein vollkommen nackter, gerupfter Hahn, der allerdings durchaus lebendig war und, als er das zu ihm niedergebeugte Gesicht des jungen Arztes erspähte, mit den Flügelstummeln schlug und zum dritten Male krähte.

NACH BUREAUSCHLUSS
     
    Stieg der Mann mit den Fischaugen in den zweiten Anhänger der Linie 6. Die Straßenbahn war überfüllt wie gewöhnlich um diese Zeit. Die Fahrgäste, in der Hauptsache Männer, hatten die Mantelkragen hochgeschlagen und die Hüte tief ins Gesicht gedrückt. Es war sehr kalt an diesem Abend, und der Mann beobachtete mit rundem, leerem Blick die Atemwölkchen, die aus vielen Mündern aufstiegen.
    Eine Weile mußte er stehen, doch nach der fünften Station wurde ein Platz vor ihm frei, und er setzte sich. Bis zur Endstation war noch viel Zeit. Er zog eine Zeitung aus der Brusttasche seines Mantels, strich sie sorgfältig glatt und vertiefte sich in sie. Aus irgendeinem Grund gelang es ihm jedoch nicht recht, sich auf den Text zu konzentrieren. Er verstand den Sinn mancher Sätze nicht, auch nach mehrmaligem Lesen. Schließlich bemerkte er auf den folgenden Seiten, anfangs vereinzelte, doch dann immer häufigere Druckfehler. Offenbar waren durch Irrtum oder Nachlässigkeit des Setzers einzelne Wörter oder auch Zeilen, ja ganze Abschnitte in einem unbekannten Alphabet gedruckt. Vielleicht griechisch oder kyrillisch. Jedenfalls beschloß er, noch diesen Abend einen diesbezüglichen Beschwerdebrief an die Redaktion zu schreiben.
    Die Fahrt, die er täglich zweimal machen mußte, morgens hin und abends zurück, nahm im allgemeinen eine Dreiviertelstunde in Anspruch. An schlechten Tagen, solchen mit größeren Verkehrstauungen, konnte sie allerdings mitunter sehr viel länger dauern. Doch waren ihm solche Verzögerungen eher angenehm als lästig. Er kam nicht gern in seine Wohnung. Er fühlte sich dort nicht zu Hause. Eigentlich hatte er sich noch nie und nirgends zu Hause gefühlt. Wenn die Kollegen im Bureau darüber sprachen, hörte er zu und versuchte vergebens, sich etwas darunter vorzustellen. Doch hatte er sich im Laufe seines Lebens an diesen Mangel gewöhnt wie an ein kleines körperliches Gebrechen, mit dem man sich wohl oder übel einrichtet. Da er allein lebte, war sein Tag unwiderruflich vorbei, sobald er die Tür seiner Wohnung hinter sich schloß. Solang er in der Straßenbahn saß, schienen ihm dagegen noch allerlei Möglichkeiten offen. Er dachte dabei an nichts Bestimmtes, es war allabendlich dieselbe kleine absurde Hoffnung und dieselbe kleine, kaum bewußte Enttäuschung.
    Nach einiger Zeit blickte er von seiner Lektüre auf. Es überraschte ihn, daß der Wagen sich heute schon so früh fast völlig geleert hatte. Nur vier Personen waren noch übrig geblieben - oder vielmehr fünf mit ihm selbst. Ihm gegenüber saßen zwei dicke alte Frauen mit riesenhaften Einkaufstaschen, welche sie, einander mißtrauisch musternd, offenbar keinen Augenblick loszulassen gewillt waren. Beide Weiber waren in eine geradezu lächerliche Menge von Schals, Strickjacken und Wolltüchern eingemummt, beide trugen

Weitere Kostenlose Bücher