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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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Handschuhe, welche die Fingerspitzen frei ließen. Soweit man ihre geröteten Gesichter in der Vermummung erkennen konnte, waren sie einander auffallend ähnlich. Vielleicht handelte es sich um Schwestern.
    Etwas weiter saß ein armselig gekleideter kleiner Mann, der vor sich niederblickte und in gewissen Abständen ein wenig den Kopf schüttelte, als versuche er etwas zu verstehen, das er immer von neuem nicht verstand. Neben ihm stand ein zarter kleiner Junge mit einer Matrosenmütze auf dem langen Blondhaar, der vor sich hinsang, wobei er mit den Fingern Gucklöcher in die Eisschicht auf der Fensterscheibe schmolz. Plötzlich schien er draußen etwas entdeckt zu haben, denn er begann, aufgeregt an dem Mann zu zerren, faßte ihm sogar ins Gesicht, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Es dauerte eine Weile, ehe der Mann sich so weit gesammelt hatte, daß er dem Kind sein Ohr zuneigte, die wichtige Mitteilung entgegennahm und nickte. Die Straßenbahn hielt, und die beiden verließen Hand in Hand den Wagen.
    Als die nächste Haltestelle nahte, erhoben sich auch die Weiber und schleppten ächzend und schnaufend ihre gewaltigen Markttaschen zu den Ausgangstüren, die eine zur hinteren, die andere zur vorderen, dabei sahen sie sich noch einige Male grimmig nach einander um, obgleich das wegen ihrer Körperfülle nicht ohne Umstände abging.
    Der Mann mit den Fischaugen blickte ihnen nach. Er hauchte ein Loch in das Eis seiner Scheibe, um festzustellen, ob die beiden dieselbe Richtung einschlagen würden, doch konnte er sie nirgends entdecken. Die Straßenbahn fuhr wieder an, er lehnte sich zurück und ließ seinen Blick durch den leeren Wagen schweifen.
    Nach einer Weile fiel ihm ein, daß möglicherweise noch ein Kontrolleur zusteigen könnte. Er knöpfte seinen Mantel auf und suchte in allen Taschen nach seinem Dauerfahrtausweis, doch konnte er ihn nicht finden. Es war das erste Mal, daß ihm das geschah, und schien ihm ganz unerklärlich. Freilich war es nicht sehr wahrscheinlich, daß auf diesem letzten Teil der Strecke noch ein Kontrolleur zustieg, aber falls es doch geschah, würde es Unannehmlichkeiten geben. Die Sache beunruhigte ihn, und er suchte noch einmal alle seine Taschen durch. Schließlich gab er es auf und versuchte sich zu erinnern, wann er das Dokument zum letzten Mal in der Hand gehabt hatte, aber vergeblich.
    Einige Zeit später fiel ihm auf, daß die Sonne, die bei Bureauschluß gerade dabei war unterzugehen, noch immer nicht vollends versunken war. Im Gegenteil, sie hatte sich zweifellos wieder ein kleines Stück erhoben. Das befremdete ihn.
    Er kratzte mit den Fingernägeln die Eisblumen von der Fensterscheibe und spähte hinaus. Villen zogen vorüber und kleine, ländliche Holzhäuser, umgeben von großen, blühenden Gärten. Auf einer Schaukel saßen Kinder in leichten Sommerkleidchen oder halbnackt. Der Mann mit den Fischaugen fand das leichtsinnig. Die Kinder mußten sich ja den Tod holen. Im Bureau schrieb man den 23. Januar. Aber die Bäume dort draußen waren grün und manche sogar voller Blüten. Nun schob sich ein von Blumenbeeten umgebenes Denkmal in sein Blickfeld. Es stellte einen ruhenden Hirsch dar, dem anstelle des Geweihs lebendiges, dichtbelaubtes Astwerk aus der Stirn wuchs.
    Fast sechzehn Jahre waren es nun schon, die er diese Strecke fuhr, aber noch nie war ihm jenes Denkmal aufgefallen. Im Augenblick hätte er überdies noch nicht einmal sagen können, wo die Straßenbahn sich gerade befand. Er knöpfte den Ärmel seines Mantels auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Offenbar waren die Zeiger rückwärts gelaufen. Er würde die Uhr zur Reparatur bringen und einige Tage auf sie verzichten müssen. Diese Aussicht war ihm mehr als peinlich, denn er lebte nach einem genauen Zeitplan. Er schnallte die Uhr ab, hielt sie ans Ohr und schüttelte sie. Darauf blieb die Uhr stehen.
    Offensichtlich bemühte sich jetzt der Straßenbahnführer, die versäumte Zeit einzuholen. Er beachtete keine Haltestelle mehr und fuhr seit geraumer Weile in nicht mehr zulässigem Tempo. Der Mann mit den Fischaugen hielt das für leichtsinnig.
    Nach und nach begann die Eisschicht an den Fenstern aufzutauen. Kleine Schollen rutschten an den Scheiben nieder, schoben sich übereinander und fielen ab. Die Bahn fuhr jetzt durch ein Waldstück. Zwischen üppigen Blattgewächsen standen Riesenfarne, baumgroße Schachtelhalme und Palmen. Dem Mann mit den Fischaugen kamen Bedenken, ob er möglicherweise in

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