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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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eine falsche Linie gestiegen sei. Doch das war nicht möglich, denn an der Haltestelle, wo er zugestiegen war, verkehrte außer der Linie 6 keine andere. Ein Irrtum war also ausgeschlossen. Er lehnte sich zurück und wartete.
    Wildes Wiehern ließ ihn aufschrecken. Ein weißes Pferd jagte neben dem Wagen her, direkt unter seinem Fenster. Es war auf orientalische Art gesattelt und gezäumt, seine Mähne und sein Schweif flatterten im Wind. Manchmal war es sekundenlang hinter Blattwerk und Dickicht dem Blick entzogen, aber immer wieder drängte es sich an den fahrenden Wagen heran. Der Mann mit den Fischaugen hatte nicht darauf geachtet, ob das Tier sich schon lang so merkwürdig verhielt, auch hielt er es nicht für seine Angelegenheit, etwas dagegen zu unternehmen. Da der Schimmel jedoch hartnäckig bei seinem Benehmen blieb, stand er schließlich doch auf. ging auf die hintere Plattform und versuchte, das Tier durch Gesten zu verscheuchen. Da er keinen Erfolg damit hatte, versuchte er sogar, die Tür zu öffnen, obgleich es automatische Türen waren, die während der Fahrt geschlossen blieben. Dennoch gelang es ihm nach einigem Rütteln zu seiner eigenen Überraschung. Heiße, feuchte Luft wehte herein.
    Als das weiße Pferd den Mann in der offenen Tür bemerkte, kam es sofort nahe heran und hielt sich so, daß er vom Trittbrett aus sich leicht in den Sattel hätte schwingen können. Dabei streifte es fast die Wand des Wagens. Der Mann mit den Fischaugen trat nach ihm, ruderte mit den Armen und schrie: «Weg da! Mach, daß du weg kommst!» Er hatte Sorge, dem Schimmel könne etwas zustoßen, was dann wahrscheinlich einen längeren Aufenthalt der Straßenbahn nach sich ziehen würde, bis der Tatbestand des Unfalls polizeilich festgestellt wäre, wodurch sich seine Heimkehr möglicherweise um Stunden verzögern konnte. Doch alle seine Bemühungen hatten nur den Erfolg, daß das Tier sich noch mehr anstrengte, ihm nahe zu kommen. Erst als er auf den Einfall kam, zwei Finger im Mund, einen gellenden Pfiff auszustoßen, blieb das Pferd augenblicklich zurück. Er hielt sich an den Griffen fest und beugte sich weit hinaus, dabei sah er gerade noch, wie das Tier, schon weit fort, die Ohren anlegte und in panischem Schrecken das Gebiß bleckte. Danach kehrte er auf seinen Sitzplatz zurück.
    Inzwischen hatte sich die Landschaft verändert. Es war nun eine verbrannte Steppe. Da und dort stiegen von Stellen, an denen das Gras noch glomm, leichte Rauchwolken auf. Die Luft über der Ebene waberte vor Hitze. Einmal erblickte er in einiger Entfernung einen Zug von Sträflingen, entsetzlich verhungerte Gestalten in gestreiften Anzügen. Sie gingen auf hohen Stelzen, vermutlich wegen der Glut des Bodens. Er zog den Mantel aus und legte ihn sorgfältig über die Lehne des Sitzes neben sich. Die Sonne stand nun im Zenit. Die trockene Hitze dörrte ihm den Mund aus. Er hätte gern etwas getrunken, aber dazu mußte er sich gedulden, bis er zu Hause war. Lang konnte es ja nun nicht mehr dauern.
    Ein wenig später fuhr die Straßenbahn plötzlich ziemlich langsam. Sie bewegte sich an einem schier endlosen Fabrikkomplex entlang, der ausgestorben dalag. Alle Fenster der Gebäude waren eingeschlagen, die Dächer durchlöchert und eingesunken. Offenbar war auf diesem Teil der Strecke auch das Straßenbahngleis sehr schadhaft, wie das beinahe unerträgliche Poltern und Schlagen der Räder vermuten ließ.
    Der einzige Mensch, den der Mann mit den Fischaugen in der Fabrikruine entdecken konnte, war ein riesenhafter Greis, vollkommen nackt, dessen Bart zu einem Zopf geflochten beinahe bis auf den Boden herabhing. Er stand mitten auf einem weißgefliesten Platz in der grellen Sonne, winkte dem Vorüberfahrenden zu und deutete immerfort dringlich mit übergroßem Zeigefinger auf einen Kürbis, den er mit der anderen Hand hochstemmte. Dazu schrie er etwas. Es schien ein einsilbiges Wort zu sein, bei dem er die Lippen rund machte. Aber der Mann mit den Fischaugen konnte ihn wegen des Getöses der Räder nicht hören.
    Die Straßenbahn beschleunigte wieder. Sie fuhr jetzt durch eine Wüste aus Sand, Steinen und vereinzelt stehenden Felsen, die wie halb zerschmolzene Figuren und Maschinen aussahen. Der Mann mit den Fischaugen sagte sich, daß die Bahn wohl eine Umleitung fahren müsse. Dergleichen konnte ja vorkommen, wenn irgendwo Straßenarbeiten im Gang waren. Sein Durst war inzwischen so unerträglich geworden, daß ihm schon das Atmen schwer fiel.

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