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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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Er schnappte nach Luft. Nach und nach verfiel er in einen halbbewußtlosen Dämmerschlaf.
    Als er wieder zu sich kam, war es sehr viel kühler geworden. Er bemerkte, daß die Sonne sich dem Horizont zuneigte -jetzt aber offensichtlich dem östlichen. Und plötzlich schüttelte ihn ein tränenloses Schluchzen. Die dumpfe Geduld oder Gleichgültigkeit, mit der er sich bisher davor geschützt hatte, zur Kenntnis zu nehmen, was da mit ihm gemacht wurde, war ganz plötzlich aufgebraucht. Er sagte laut vor sich hin, daß er noch heute abend eine geharnischte Beschwerde an die Direktion der öffentlichen Verkehrsmittel schreiben würde, aber es half nichts, er glaubte selbst nicht mehr daran. Dieses Eingeständnis erfüllte ihn mit Entsetzen. Er fühlte sich hilflos und nackt dem Unbegreiflichen ausgeliefert, und Panik erfaßte ihn. Er sprang auf und taumelte von der rasenden Fahrt geschüttelt auf die vordere Plattform. Dort versuchte er, durch die Scheiben dreier Wagen hindurch, den Zugführer zu erspähen. Das Glas war staubbedeckt und ließ keine Sicht zu. Er schrie und brüllte und schlug mit den Händen gegen die Fenster, ohne irgend etwas auszurichten. Da griff er nach der Notbremse, denn in diesem Falle hielt er sich für dazu berechtigt. Er zog mit aller Kraft der Verzweiflung, doch nichts geschah. Er zog abermals. Er zog, bis ihm der Arm lahm wurde. Er zog mit dem anderen. Nach einer Weile bemächtigte sich seiner blinder Zorn, und der rote Griff blieb ihm in der Hand. Laut heulend wie ein Kind schleuderte er ihn auf den Boden. Eine Weile stand er da, starrte das Ding an, und sein Keuchen wurde ab und zu von einem trockenen Schluchzen unterbrochen. Nach und nach beruhigte er sich.
    Er begab sich auf seinen Platz zurück und starrte mit rundem, leerem Blick durch die staubigen Scheiben in die vorüberziehende, vollkommen gleichförmige Öde hinaus. Das einzig Lebendige, was er nach langer Zeit sah, war ein Mann in der unförmigen, silberglänzenden Montur eines Astronauten, der an einem Strick ein Kalb hinter sich her zerrte, das sich wehrte und nicht mitwollte. Beide warfen unendlich lange Schatten über die Ebene. Das war alles.
    Dann fuhr die Bahn plötzlich sehr langsam, fast im Schrittempo. Erschreckte aus seinem dumpfen Brüten auf, raffte Mantel und Hut an sich, eilte zur hinteren Plattform, wo die Tür noch immer offenstand, und sprang ab. Er hatte die Fahrtgeschwindigkeit unterschätzt, stolperte über Steine, stürzte und blieb sekundenlang liegen. Dann fiel ihm ein, daß er mitten aus dieser endlosen Ebene unmöglich zu Fuß nach Hause gehen konnte. Von der Entfernung abgesehen, wußte er ja den Weg nicht, nicht einmal die Himmelsrichtung. Er stand auf und sah, daß die Bahn sich noch nicht allzu weit entfernt hatte. Sie schien ihre Geschwindigkeit sogar noch weiter vermindert zu haben. Er begann zu laufen, doch nun beschleunigte auch sie wieder ihre Fahrt. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, gerade eben noch das letzte Trittbrett zu erreichen und sich, strampelnd und halb schon mitgeschleift, hinaufzuziehen. Auf allen vieren kroch er ins Innere des Wagens und blieb nach Luft ringend auf dem schmutzigen Boden liegen, das Gesicht in der Beuge des Arms versteckt.
    Es dauerte lange, ehe er sich kräftig genug fühlte, aufzustehen. Sorgfältig klopfte er seine Knie und Ellbogen ab. Sein Anzug war an mehreren Stellen zerrissen, das linke Hosenbein in Höhe des Knies blutgetränkt. Hut und Mantel hatte er verloren.
    Er stellte sich an die offene Tür und ließ mit geschlossenen Augen den Fahrtwind, der inzwischen wieder kräftig blies, sein schweißnasses Gesicht kühlen. Er wehrte sich gegen nichts mehr. Er wußte, daß er sich mit allem einverstanden erklärt hatte. Was immer kommen mochte, es war das, was er selbst wollte.
    Die Sonne war so weit auf den östlichen Horizont herabgesunken, daß sie ihn blendete, als er sich aus der Tür beugte, seine Augen mit der Hand beschattete und zu erkennen versuchte, was es war, worauf die Bahn mit ihm zufuhr. Anfangs hielt er den dunklen Streif am Horizont für eine sehr ferne Gebirgskette. Später meinte er, ein aufziehendes Gewitter zu erblicken, und freute sich auf den kommenden Regen. Erst als er noch näher heran war und sah, daß dies Dunkle sich in sich selbst bewegte und atmete, schien es ihm ein von Sturmwinden durchwühlter Wald oder eine über den ganzen Horizont reichende Wand aus riesigen Vorhängen, die langsam auf und nieder
    wehten, sich

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