Der Spiegel von Feuer und Eis
ballte die Hände zu Fäusten und sah zu den Dorfbewohnern hin, die weitere Stricke um den wehrlosen Wolf geschlungen hatten und sich anschickten, ihn zum Dorf zu schleifen. Einer der Männer half Ailis vom Boden auf. Auch Cassim erhob sich und folgte den vor ihnen tanzenden Fackeln zurück zu den Häusern, deren erleuchtete Fenster in einiger Entfernung über dem Schnee zu sehen waren. Das Geräusch, mit dem der schwere Wolfskörper über den Boden gezerrt wurde, verursachte ihr ein Frösteln.
Auf der Klippe, hoch über dem Laith, verfolgte ein glitzerndes Augenpaar die Bewegungen der Fackeln. In einem lautlosen Knurren hoben sich die Lefzen über den grauenvollen Fängen. Menschennarren! Es gab nichts, was sie jetzt noch retten konnte.
Verstohlen drückte Cassim sich durch die halb geöffnete Tür und atmete langsam die kalte Nachtluft ein, um das Zittern in ihrem Inneren zu beruhigen. Lunn war noch immer nicht aufgewacht. Er atmete schwach und musste immer wieder husten. Ailis wich keinen Augenblick von seiner Seite. Sie hielt
die Hand ihres Sohnes umklammert, als könne sie ihm so etwas von ihrer Kraft abgeben und auf diese Art verhindern, dass er in die Zweite Welt hinüberging. Nur einmal hatte sie ihn in Cassims Obhut zurückgelassen und kurz die kleine Kammer verlassen – als sie erfahren hatte, dass ein Teil der Männer sich auf die Suche nach dem toten Wolf machen wollten. Das schwer verletzte Tier war irgendwie vom Haken losgekommen und dann in der Strömung abgetrieben. Die Eisschollen, die sich plötzlich auf der Oberfläche des Laith getürmt hatten, hatten es unmöglich gemacht, den Körper wieder an die Boote heranzuziehen. So hatten die Männer beschlossen, nach dem Kadaver zu suchen, um das weiße Fell für gutes Geld oder sogar einen Scheffel Korn zu verkaufen. Bei ihrem Aufbruch hatte Ailis sie beinah auf Knien angefleht, Ausschau nach ihrem Gemahl Kavan zu halten, der irgendwo dort draußen in der Dunkelheit sein musste. Nur widerstrebend hatten die Männer es ihr versprochen.
Cassims Blick ging zu der Schwärze, die sich an den Felsen jenseits des Laith schmiegte. Auch Morgwen war immer noch dort draußen. Gerne hätte sie sich an die Hoffnung geklammert, dass die beiden Firnwolfbestien nur so etwas wie Späher gewesen waren und damit die einzigen dieser Ungeheuer in der Nähe. Gleichzeitig aber wusste sie, wie unwahrscheinlich dies war. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Er hatte gesagt, er würde bis zum Abend nicht zurück sein und sie solle sich keine Sorgen machen … Verdammter Kerl! Wie soll ich mir keine Sorgen machen, wenn ich weiß, dass du alleine da draußen bist und wahrscheinlich ein ganzes Rudel dieser Monster in der Nähe lauert? Ihre Hände verkrampften sich so sehr um die beiden Holzschüsseln, dass aus der einen ein wenig Wasser schwappte. Die plötzliche Kälte auf ihrer Haut ließ ihren Blick zu dem Schuppen wandern, in den die Männer den Wolf geschleppt hatten. Rötlicher Fackelschein fiel durch die Ritzen der Bretter, zuweilen glaubte sie, eine Bewegung dahinter zu sehen.
Etwas Weißes auf dem dunklen Holz der einen Schüssel zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit einem Keuchen ließ Cassim die Schale in den Schnee fallen. Beim Anblick des Inhalts, der sich in dem festgetretenen Weiß verteilt hatte, wallte Ekel in ihrer Kehle hoch. Sie schluckte ihn mühsam hinunter. Maden – und nicht nur eine. Deshalb hatte der Wirt ihr die Karnfruchtschalen und die Fleischabfälle so bereitwillig überlassen: weil sie verfault und vollkommen ungenießbar waren. Vermutlich hätte der Firnwolf sie noch nicht einmal dann angerührt, wenn er fast verhungert gewesen wäre. Sie wischte die Hand angewidert an dem sauberen Schnee ab, der einen Holzstoß neben der Hauswand bedeckte, fasste die zweite Schale fester und ging zu dem Schuppen hinüber. Für heute Nacht würde die weiße Bestie sich mit Wasser begnügen müssen. Morgen konnte sie versuchen, etwas anderes für das Tier zu beschaffen.
Die grob gezimmerte Schuppentür öffnete sich mit einem unwilligen Knarren. Das Licht mehrerer Fackeln erhellte das Innere und blitzte auf Eisenstäben, die bestimmt dreimal die Dicke ihres Daumens hatten und zu einem etwa mannshohen Käfig gehörten. Eine schwere Kette verschloss seine Tür. Cassim sah sofort, dass der Wolf sich in ihm nur mit Mühe um die eigene Achse würde drehen können. Doch selbst dies war ihm unmöglich gemacht worden, da die Männer es nicht gewagt
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