Der Spiegel von Feuer und Eis
Wunde, färbte sein Fell dunkel und tropfte träge in den Schnee. Eben spannte einer der Männer seine Armbrust erneut. »Diesmal erwische ich dich richtig, Bestie! Diesmal geht der Bolzen direkt zwischen deine Augen«, hörte Cassim ihn hasserfüllt murmeln, während er die Waffe offenbar nicht zum ersten Mal an die Schulter hob und zielte. Der Wolf kämpfte gegen seine
Fesseln, unter seinem Fell spannten sich die mächtigen Muskeln. Seine Lefzen zogen sich in einem gefährlichen Knurren noch weiter zurück.
»Nein!« Cassim schlug die Armbrust beiseite, als der Mann den Abzug niederdrückte. Der eiserne Bolzen verfehlte den Schädel des Firnwolfs, patschte irgendwo jenseits des Fackelscheins ins Wasser. »Das dürft Ihr nicht tun!«
Wütendes Gemurmel kam aus den Reihen der Männer. Ailis’ Schluchzen ging darin beinah unter.
Der Mann mit der Armbrust drehte sich zornig um, griff dabei nach einem weiteren Bolzen. »Bist du verrückt geworden, Weib? Noch eine weniger von diesen Bestien wird viele Menschen ruhiger schlafen lassen.«
»Ich bin nicht verrückt!« Cassim sah den Firnwolf an. Der starrte aus eisblauen Augen voll brennendem Hass zurück. Im Licht der Fackeln schienen sie zu glühen. Schaudernd wich sie seinem Blick aus, schaute die Dorfbewohner an. Er hat Lunn gerettet. Auch der andere wollte dem Kleinen nie etwas tun. Begreifen sie das denn nicht?
Sie musste nur die Männer ansehen, um die Antwort zu kennen. »Ich bin nicht verrückt. Und ich hasse diese Bestien mindestens ebenso sehr wie Ihr auch. – Aber im Süden wiegt jemand diese Monster mit Korn auf, wenn man sie ihm lebend bringt.« Das Grollen aus der Kehle des Wolfes wurde dunkler, während er sich abermals aufbäumte und erfolglos versuchte, sich von den Netzen und Stricken zu befreien.
»Was interessiert mich das Korn, das irgendjemand zahlt!? – Mein Bruder ist gerade ertrunken! Das Biest soll dafür büßen!« Abermals hob der Mann neben ihr seine Waffe. Noch immer lagen die Augen des Wolfes auf Cassim. Der Riemen an seiner Kehle war straff angezogen, verhinderte, dass er sich aus dem Schnee stemmen konnte.
»Wer sagt, dass Ihr den Tod Eures Bruders nicht an ihm rächen
könnt? Und ein Bolzen zwischen die Augen – ist das nicht ein viel zu gnädiges Ende für dieses Ungeheuer?« Die Armbrust wankte leicht an der Schulter des Mannes. Cassim sah jetzt auch die anderen Dorfbewohner an. »Und wenn Ihr das Vieh am Leben lasst und es in den Süden verkauft, kann das Korn, das man dort bezahlt, helfen, die Familien derjenigen zu ernähren, die durch seine Schuld umgekommen sind.«
Die Männer schauten einander an. Allmählich wich ihr Hass etwas anderem. Cassim konnte es an ihren Blicken erkennen. In einigen stand die Gier – und in anderen der Wunsch nach Rache. Sie schauderte.
»Leg die Armbrust weg, Brec. Holen wir uns lieber das Korn.«
»In Semias’ Schuppen steht doch noch der alte Bärenkäfig. Dort drin dürfte das Biest gut aufgehoben sein.«
»Ja, schaffen wir das Vieh in den Käfig. Wir werden ja sehen, wie wild es noch ist, wenn die Gitter es bändigen.«
Die Stimmen der Männer übertönten das Knurren des Wolfes. Der Blick, mit dem er Cassim fixierte, war blanker Zorn. Sie wurde zurückgedrängt. Ein weiteres Netz wurde über das Tier geworfen und angezogen, Stricke um seine Glieder geschlungen und festgezurrt. Der Wolf bäumte sich auf, kämpfte mit aller Kraft, biss um sich, einer der Männer schrie auf. Jemand stieß mit einer Harpune nach dem Tier. Es jaulte.
Als die Männer schließlich von ihm abließen, war der Firnwolf so sorgfältig gefesselt, dass es ihm kaum noch möglich war, mit den Pfoten zu zucken. Und obwohl er vollkommen hilflos war, genügte ein Blick in seine frostbrennenden Augen, um zu erkennen, dass er bis zum allerletzten Herzschlag kämpfen würde.
Cassim wandte sich ab, wich diesen entsetzlich wütenden Augen aus, die unaufhörlich auf sie gerichtet zu sein schienen, und trat zu Ailis, die das Bündel aus Mänteln fest an sich gepresst hielt, in dem Lunns regloser kleiner Körper steckte. Sie
kniete sich neben die Frau, begegnete ihrem Blick. Ängstlich und zugleich hoffnungsvoll sah Ailis sie an.
»Er atmet. – Aber er wacht nicht auf.« Sie barg ihren Sohn fester an ihrer Brust, wiegte ihn sacht in ihrem Arm.
»Wir sollten ihn schnell ins Warme bringen.« Cassim betrachtete das Gesicht des Kleinen. Es war so fahl wie das einer Leiche und dennoch war er am Leben. Es war ein Wunder. Sie
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