Der Spiegel von Feuer und Eis
zu Boden tanzten. Langsam, wie unter Schmerzen, stand er auf. Ein Schritt, das verletzte Bein brach unter seinem Gewicht weg.
Gaeth hatte sich ebenfalls erhoben, jetzt sprang er vor und fing seinen Herrn auf, wollte ihn stützen. Er wurde unter Knurren zurückgestoßen. Mit einer leichten Verbeugung zog er sich auf Armlänge zurück und hielt sich doch bereit, erneut zuzufassen. Mühsam humpelte sein Herr an ihm vorbei, verschwand zwischen den Bäumen. Im Rudel entstand Unruhe. Ein einziger Blick genügte, um sie wieder zur Ruhe zu bringen, dann wandte er sich um und folgte ihm in sicherem Abstand. Er musste ihn dazu bringen, sich auszuruhen und zu schlafen. Je weniger er sich bewegte, je weniger er sich anstrengte, umso eher würde es seinem Körper gelingen, das Gift zu bekämpfen, bevor die Krämpfe begannen.
Knapp hinter den ersten Bäumen fand er das Hemd aus weichem weißen Leder, verunziert mit Schnitten und dunklen Flecken, dann Stiefel und Hose. Schließlich entdeckte er seinen Herrn ein Stück weiter, in einer flachen Senke, inmitten eines Sees aus reinem Weiß. Gaeth blieb stehen, wagte kaum zu atmen, beobachtete, wie sein Herr die glitzernde, rieselnde Kälte langsam auf seiner Haut verteilte, seine Handgelenke, sein Gesicht damit wusch. Er wusste, was dort unten geschah: uralte Magie und unberührter Schnee, verwoben zu einem machtvollen Zauber, der die Verletzungen heilen würde, die die Menschen
ihm zugefügt hatten. Selbst in dem schwachen Mondlicht, das sich durch die Wipfel der Bäume verirrte, konnte Gaeth sehen, wie die blutunterlaufenen Stellen über den angeschlagenen, wenn nicht sogar gebrochenen Rippen verblassten, wie die Atemzüge tiefer und weniger schmerzerfüllt wurden. Unzählige Male hatte er beobachtet, wie sein Herr diese Macht benutzt hatte, um ein Mitglied des Rudels auf diese Art zu heilen. Krankheiten oder auch schwere Verletzungen – es gab nichts, was diesem Zauber widerstand; nichts – außer den Wunden, die Eisen ihnen schlug.
»Bring sie fort, kleiner Bruder!«
Im ersten Moment begriff Gaeth nicht, dass die so trügerisch sanften Worte ihm gegolten hatten. Dann schüttelte er seine Verblüffung ab und wagte sich näher. »Du musst …«
»Bring sie fort! Geht nach Süden. Dort gibt es einen alten Edelsteinstollen. Wartet dort, bis es vorbei ist. – Beeilt euch! Ihr habt Zeit, bis der Mond hinter dem Wald versinkt.«
»Es? – Was hast du …?«
Der Eisprinz fuhr zu ihm herum. Die Wunde an seinem Oberschenkel leuchtete ebenso wie all die anderen Schnitte, die auf seiner Haut zurückgeblieben waren, in wütendem Rot. Dennoch wankte er nicht.
»Gehorche!«
Frost fauchte über Gaeth hinweg. Er taumelte zurück, starrte in die hellen, seltsam schläfrig blickenden Augen, in deren Tiefen Eis und Feuer brannten, und wusste von einem Atemzug auf den anderen, dass er den Tod in ihnen sah.
Still blickte Cassim in die Dunkelheit hinaus. Hinter ihr sang Ailis ihrem Sohn noch immer Schlaflieder. Ihre Stimme war inzwischen zu einem heiseren Krächzen herabgesunken. Die Geräusche
unten in der Schenke waren verstummt. Endlich hatten die Männer aufgehört, ihre Taten bei Bier und Wein zu feiern, und waren nach Hause gegangen. Sie rieb sich müde über die Augen. Gerne hätte sie sich selbst unter die Decken ihres Bettes verkrochen, doch sie wollte Ailis und den Kleinen nicht alleine lassen. Fröstelnd schlang sie die Arme enger um sich. Nur einen kurzen Moment noch, dann würde sie den Fensterladen wieder schließen. Das hell im Kamin prasselnde Feuer hatte die kleine Kammer mit stickiger Hitze erfüllt, die selbst ihr das Atmen erschwerte. Wie sollte es da erst Lunn mit seinem Eisfieber gehen. Sie warf einen raschen Blick zu Ailis und dem Kleinen, den zwei weitere Decken gegen die Kälte schützten. Die Augen der jungen Frau starrten noch immer stumpf ins Nichts. Cassim wandte sich schaudernd ab. Was sollte werden, wenn auch noch Lunn in die Zweite Welt ging? Sie rieb sich die Arme und sah über die dunklen, schlafenden Häuser des Dorfes zu der schwarzen Schattenlinie der Baumwipfel. Gerade versank die fahle Mondsichel hinter ihr und hinterließ den Himmel in abgrundtiefer Finsternis. Es war so still, als wären sie und Ailis die einzigen lebenden Wesen weit und breit. Sogar das Kichern und Wispern des Laith schien verstummt.
Einen Augenblick beobachtete sie noch ihren Atem, der als weiße Schwaden in die Nacht davontrieb, dann beugte sie sich vor, um den Fensterladen zu
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