Der Spiegel von Feuer und Eis
– Und richtet Imar aus, dass er uns einen neuen Krug Würzbier schicken soll. Der alte ist leer und wir sind durstig.« Krachend schlug die Tür zu. Seltsam zittrig atmete Cassim die kalte Nachtluft ein. Im Inneren des Schuppens schabte Eisen über Eisen. Beinah erwartete sie, einen qualvollen Laut von dem Wolf zu hören. Es blieb still. Für einen Moment schloss sie die Augen.
Morgwen hätte eine Möglichkeit gefunden, etwas für die Bestie zu tun – irgendetwas. Sie rieb sich übers Gesicht, ließ dann langsam die Hände sinken, blickte noch einmal auf die grob gezimmerten Bretterwände des Schuppens. Der Wolf hasste sie ebenso wie jeden anderen Menschen; er würde ihr niemals genug vertrauen, damit sie ihm helfen konnte, selbst wenn sie es schaffen sollte, Brec und seinen Kumpanen zu überlisten. Wenn doch nur Morgwen hier wäre! Aber er war es nicht – und Jornas würde ihr bestimmt nicht beistehen. Er hatte bereits an ihrem Verstand gezweifelt, als sie den Wirt um Wasser und etwas zu fressen für die Bestie gebeten hatte. Ohne das Gefühl der Hilflosigkeit abschütteln zu können, schlurfte sie zum Gasthof hinüber, hinter dessen Fenstern noch immer goldenes Licht brannte.
Einmal mehr schlug Cassim die Decke zurück und ersetzte die nassen Tücher, die um Lunns Beine geschlungen waren, durch neue, kältere. Vor etwas mehr als einer Stunde war die Kälte allmählich aus dem Körper des Kindes gewichen, doch nur um mörderischer Hitze Platz zu machen. Eisfieber!
Ailis’ Augen schwammen in Tränen, während sie ihren leise weinenden Sohn in den Armen hielt und ihm Schlaflieder vorsang. Ihre Stimme brach immer wieder. In drei oder vier Stunden würde die Sonne aufgehen. Sie wussten beide, wie schlecht die Chancen für den Kleinen standen, dass er sie noch einmal sehen würde.
Geräusche drangen aus dem unteren Stockwerk zu ihnen. Schwere Tritte, ein Scharren, als würde etwas Schweres über den Boden geschleift, Stimmen, dann Schritte, die sich die Treppe herauf näherten, gleich darauf ein Klopfen. Sie blickte zu Ailis hin, die die Tür anstarrte, ohne sich zu rühren, erhob sich und öffnete. Auf dem Gang stand die Frau des Wirtes – totenfahl.
»Semias und die anderen sind zurück.« Ihre Hände wischten über ihre Schürze. »Sie haben … Sie …« Die Frau trat zurück. Eine stumme Aufforderung, selbst zu sehen, was die Männer gefunden hatten.
Mit den Bewegungen eines Schlafwandlers bettete Ailis ihren Sohn in die Kissen zurück, stopfte fürsorglich die Decken um seinen fiebrigen Körper fest, ehe sie Schritt für Schritt den Raum durchquerte. Man hätte meinen können, sie kämpfe gegen eine unsichtbare Gewalt an. Ihr Blick glitt abwesend über die Wirtin.
»Geht mit ihr!« Die Frau legte Cassim die Hand auf den Arm. »Ich bleibe bei dem Kleinen.«
Gerade verschwand Ailis den Treppenabsatz hinunter. Cassim beeilte sich, ihr zu folgen, doch sie erreichte gerade erst die letzten Stufen, als ein qualvoller Schrei durch das Haus gellte. Einer der Tische war mitten in den Raum gerückt worden. Darauf lag der Körper eines Mannes. Weinend klammerte Ailis sich an den Leichnam, rief immer wieder den Namen ihres Gemahls. »Kavan!«, immer wieder »Kavan!« und flehte schluchzend: »Lass mich nicht allein!«.
Langsam trat Cassim in die Stube, wusste nicht, was sie tun sollte. Schließlich ging sie zögernd auf Ailis zu, die noch immer
an der Brust des Toten weinte. Einer der Dorfbewohner trat nahe an sie heran.
»Am Fluss haben wir ihn gefunden. Stromabwärts. Sie haben ihn zerfleischt.« Er sprach so leise, dass Ailis es nicht hören konnte.
Sie! – Die Firnwölfe! Cassim schloss für einen bebenden Atemzug die Augen. Eine Hand legte sich beinah schmerzhaft um ihren Arm. Erschrocken hob sie die Lider. Jornas stand neben ihr und blickte sich unruhig um. »Wo steckt das Eisblut? Wir müssen hier weg, ehe diese Leute dahinterkommen, dass die Wolfsmonster hinter uns her sind – und dass der Eisprinz bei ihnen ist«, zischte er in ihr Ohr.
Einen Moment stand sie da und starrte ihn vollkommen sprachlos an. Dann befreite sie sich mit einem Ruck aus seinem Griff und trat neben Ailis. Mit sanfter Gewalt zog Cassim sie von dem Toten fort und in ihre Arme. Die junge Frau klammerte sich an sie, jeder ihrer Schluchzer ein Laut nackter Verzweiflung.
Ihr Blick fiel auf den Leichnam. »… Sie haben ihn zerfleischt.« Sie schloss Ailis fester in die Arme. Vielleicht war es eine Gnade, dass der Laith dem Toten
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