Der Spiegel von Feuer und Eis
einer weißen Flockenkaskade, die von einem Ast rutschte, kein Ruf eines Vogels, kein Krächzen einer Krähe – nur alles umfassende beklemmende Stille. Als wäre über Nacht alles Lebendige aus diesem Wald geflohen.
Müde stieß Cassim sich von dem Baumstamm ab und folgte Morgwen durch den Schnee. Jede seiner Bewegungen wirkte angestrengt, ja beinah erschöpft. Den Beutel aus Jarlaith hatte er in dem kleinen Dorf zurückgelassen. Er trug nur noch seine Armbrust unter dem Mantel verborgen am Gürtel, doch selbst sie schien ihm manchmal fast zu schwer zu sein. Cassim wusste, dass er Kaylens Korn Ailis gegeben hatte. Einmal mehr fragte sie sich, was er mit der jungen Frau besprochen hatte, während sie und Jornas ihre Sachen in die Schankstube hinuntergetragen hatten.
»… Vertraust du mir, kleine Schwester? – Dann tu, was ich sage!«, hatte sie Morgwens Stimme durch den Spalt der nur angelehnten Tür gehört, als sie sich von Ailis hatte verabschieden wollen. Sie war sicher, auch eine gemurmelte Antwort der jungen Frau zu vernehmen, und dabei hatte Ailis die ganze Nacht nicht auf sie reagiert. Dann hatte Morgwen die Tür gänzlich aufgestoßen. Unter seinem abschätzigen, kalten Blick hatte sie sich wie ertappt gefühlt. Schweigend war er an ihr vorbei in die Schankstube marschiert. – Und er hatte auch danach kein Wort mehr gesprochen.
Cassim zuckte zusammen, als er unvermittelt stolperte. Noch ehe sie auch nur einen Laut von sich geben konnte, hatte er sich schon wieder gefangen und stapfte weiter. Schon seit einiger Zeit beobachtete sie ihn heimlich. Zuerst war es ihr in dem Schnee und durch den Umhang nicht aufgefallen, doch mittlerweile war sie sicher, dass er ein Bein schonte. Seine Erschöpfung schien mit jedem Schritt zuzunehmen, er bewegte sich immer langsamer, mühsamer. Zuweilen blieb er stehen, vorgeblich um ihr und Jornas die Möglichkeit zu geben, zu ihm aufzuschließen. Doch er nutzte diese Gelegenheiten, um selbst zu Atem zu kommen – und immer wieder schien er zu wanken. Wie weit mochte er in der Nacht auf der Suche nach Ernan und seinen Männern gegangen sein? Und die Medizin für Lunn? Woher hatte er sie besorgt? Hatte er sich irgendwann ein wenig Ruhe gegönnt, oder Schlaf? Bestimmt nicht. Und erst vor zwei Tagen hatte er sie durch den Eissturm getragen … Er musste am Ende seiner Kräfte sein – aber er würde es niemals zugeben.
Einige Zeit später war aus dem mühsam verborgenen Schonen ein deutliches Hinken geworden. Als sein Bein immer wieder unter seinem Gewicht nachgab und es Morgwen von Mal zu Mal schwererfiel, einen Sturz zu vermeiden, fasste Cassim einen Entschluss.
»Ich kann nicht mehr.« Sie blieb so abrupt stehen, dass Jornas
gegen sie stieß. Die Worte, mit denen er sie bedachte, klangen alles andere als freundlich.
Ein paar Schritte vor ihnen kam Morgwen strauchelnd ebenfalls zu einem Halt. Langsam straffte er sich, ehe er sich umdrehte und sie musterte. Bei seinem Anblick erschrak Cassim. Seine Haut war graufahl und um seine Augen lagen tiefe Schatten. War er deshalb die letzten Stunden darauf bedacht gewesen, sie nicht mehr zu nahe an sich herankommen zu lassen? Ganz kurz glaubte sie, etwas wie Erleichterung über seine Züge huschen zu sehen, doch dann war da wieder diese Maske aus Kälte und Ablehnung, die seit dem Morgen auf seinem Gesicht lag.
Für nicht mehr als einen winzigen Moment begegnete sie seinem Blick, ehe er steif nickte. »Ich sehe, ob ich etwas Holz finden kann.« Er wandte sich ab und ging langsam zwischen den Bäumen davon. Als Cassim ihm erschrocken folgen wollte, hielt Jornas sie zurück.
»Er braucht Eure Hilfe nicht. – Hier!« Er wies auf eine Schneewehe, unter der sich ein umgestürzter Baum verbarg. »Setzt Euch, Cassim! Ruht Euch aus!« Mit sanfter Gewalt schob er sie zu dem weiß bedeckten Stamm, nötigte sie, sich darauf niederzulassen. Als Cassim den Ausdruck in seinen Augen bemerkte, entzog sie sich rasch seinem Griff. Mit einem freundlichen Lächeln setzte er sich neben sie. Cassim musste sich zwingen, nicht von ihm abzurücken. Morgwens Hinken konnte ihm doch nicht entgangen sein. Warum ließ er dann zu, dass er allein nach Holz suchen ging? Sie brauchten ihn! Er musste sie zum Weißen Avaën führen!
Neben ihr löste Jornas seinen Beutel und förderte ein Stück Brot zutage, das er ihr hinhielt. »Seid Ihr hungrig, Cassim?«
»Nein! Ich …« Plötzlich konnte sie nicht mehr neben ihm sitzen bleiben. »Ich muss …« Sie sprang
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