Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Spiegel von Feuer und Eis

Der Spiegel von Feuer und Eis

Titel: Der Spiegel von Feuer und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Morrin Alex
Vom Netzwerk:
schließen. Ein Glitzern vor der Silhouette des Waldes ließ sie innehalten. Es schien, als hätte jemand winzige Diamantsplitter über den Schnee gestreut, in denen sich das Licht von Mond und Sternen brach. Das Glänzen strich langsam das jenseitige Ufer hinab, glitt über den vereisten Laith hinweg. Ein Band aus Funkeln und Blitzen, das sich Spanne für Spanne vorwärtswand. Mit angehaltenem Atem verfolgte Cassim, wie es die übrig gebliebenen Boote erreichte, die am Ufer vertäut lagen, und sie mit fahl schimmernden Reiffäden überzog. Irgendwo blökte eine Ziege, nur um sofort wieder zu verstummen. Ein Wispern und Raunen und Flüstern
war in der Luft. Schnee wirbelte auf, tanzte einen kurzen Moment lang mit einer Ahnung von Schatten, verschmolz mit dem Glitzern und sank wieder zu Boden. An den ersten Häusern des Dorfes erblühten Eisblumen auf den Mauern, wuchsen an ihnen empor, rankten in Kamine und Ritzen hinein, verwandelten sich in schimmerndes Eis. Spinnweben aus Firn woben sich in Dachgiebeln, glänzten im Mondlicht. Ein beißend kalter Windstoß fauchte zwischen den Gebäuden hindurch, sprang über Dächer, riss Cassim den Fensterladen aus der Hand und weckte sie aus ihrer Erstarrung. Hinter ihr weinte Lunn leise. Hastig angelte sie nach dem wütend hin und her schlagenden Laden, schloss ihn, legte den Riegel vor und setzte den mit Pergament bespannten Rahmen an seinen Platz, um die Kälte so weit wie möglich auszusperren. Sie wich einen Schritt zurück, als sich glitzerndes Weiß auf dem Fensterbrett bildete und Reifblumen sich auf dem dünnen Leder öffneten – und stieß seltsam erleichtert den Atem aus, als die Wärme des Kaminfeuers sie wieder vertrieb.

    Ein schriller Schrei weckte Cassim einige Stunden später. Fahles Licht schimmerte durch die Ritzen des Fensterladens und verkündete, dass es Morgen war. Verwirrt setzte sie sich auf. Ihr Nacken und ihre Schultern schmerzten, und nur allmählich begriff sie, dass sie in der Ecke zwischen Fenster und Kamin an die Wand gelehnt eingeschlafen war. Als ein zweiter, gellender Schrei erklang, war sie für einen Atemzug davon überzeugt, die schrecklichen Laute kämen aus Ailis’ Kehle, und Lunn sei gestorben. Doch dann erkannte sie, dass die Schreie von draußen hereindrangen. Hastig stand sie auf, warf einen kurzen Blick auf Ailis, die ihren Sohn noch immer unverändert in den Armen hielt, öffnete das Fenster – und erstarrte. Die ehemals steinernen
Mauern der Häuser hatten sich in Diamanten verwandelt, die in der Morgensonne glitzerten. Doch dann erkannte sie, was tatsächlich geschehen war, und ihre Kehle war mit einem Mal zu eng zum Schlucken: Wie in Jarlaith hatte Eis die Wände und Dächer mit einer tödlichen Kruste überzogen. Ein paar der Häuser waren gänzlich darunter eingeschlossen, andere offenbar nur zum Teil. In Tränen aufgelöste Frauen und einige wenige Männer rannten zwischen ihnen hin und her. Ihr Entsetzen hing beinah greifbar in der Luft, vermischt mit Weinen und Klagen.
    Cassim wandte sich vom Fenster ab und begegnete Ailis’ Blick. Noch immer wirkte die junge Frau wie benommen. Ängstlich zog sie ihren Sohn fester an ihre Brust. Es kam einem Wunder gleich, doch der Kleine atmete noch, auch wenn sein Gesicht wachsbleich war und nur Stirn und Wangen vom Fieber gerötet waren.
    »Bleibt hier bei Lunn. Ich sehe nach, was geschehen ist.«
    Ailis’ Züge blieben vollkommen reglos. Cassim hätte nicht sagen können, ob die andere sie gehört hatte. Doch dann nickte die junge Frau langsam, und sie hastete aus der kleinen Kammer, die Treppe hinunter und aus dem Haus. Sie stolperte und wäre beinah gefallen, als sie sah, dass auch das Gasthaus mit einer Schicht aus funkelndem Eis überzogen war.
    Jornas stand so plötzlich neben ihr, als sei er aus dem Boden gewachsen. Wie wenige Stunden zuvor schloss sich seine Hand hart um ihren Arm.
    »Wir müssen fort, ehe diese Leute uns die Schuld an all dem geben. Pack deine Sachen, Menschenmädchen!«
    Cassim hörte seine Worte nur wie aus weiter Ferne und merkte kaum, dass er sie wieder losließ und auf das Gasthaus zueilte. Fassungslos beobachtete sie, wie ein Leichnam aus einem der Häuser getragen wurde. Weinend folgte eine Frau der traurigen Prozession. Vor einem anderen Haus bot sich ein beinah gleiches Bild. Und auch dieses Mal hätte Cassim schwören
mögen, dass der Mann zu jenen gehört hatte, die mit auf dem Fluss waren. Sie blickte sich um. Ein weiterer Toter wurde unter

Weitere Kostenlose Bücher