Der Spiegel von Feuer und Eis
prallte. Verwirrt hob sie den Kopf und blinzelte in das Weiß. Dicke Flocken tanzten lautlos zu Boden. Zuweilen ließ eine scharfe Böe sie aufstieben. Schatten bewegten sich zwischen den wirbelnden Eislichtern. Cassim kniff die Augen zusammen, um mehr zu erkennen als schemenhafte Bewegungen. Frostkristalle hingen in ihren Wimpern, sie wischte sie weg. Das Glitzern und Schimmern der Eislichter duckte sich zurück. Für einen Moment glaubte sie, ein riesiger weißer Wolf käme auf sie zu. Doch dann hob sich die Gestalt eines Mannes vor dem Schnee ab. Neben ihr stieß Jornas ein Zischen aus.
Cassim schnappte nach Luft. Die Kälte brannte schmerzhaft in ihrer Brust. Schritt für Schritt kam der Mann näher. Sie grub sich selbst die Fingernägel in die Handflächen, um sich davon zu überzeugen, dass sie träumte. Der Schmerz sagte ihr, dass dem nicht so war.
»Morgwen?« Ein Windstoß riss seinen Namen von ihren Lippen, zupfte an seinem schwarzen Haar und schmiegte die weiten Ärmel eines weißen Hemdes gegen seine Arme. Sein Blick streifte sie nur aus dem Augenwinkel; blau glitzernde Diamanten, die von Frost und Feuer brannten. Schließlich blieb er stehen. So nah, dass sie nur die Hände hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Sie starrte ihn an.
Es war Morgwen, der da mit nichts als hohen Stiefeln, einem Paar Hosen aus weißem Leder und einem Hemd aus Perlseide am Leib in der Kälte stand. Es waren die gleichen schwarzen Brauen, die sich so gern in leisem Spott hoben oder sich unwillig zusammenzogen, die gleichen Züge, edel und fein geschnitten. Und doch war etwas anders. Er war noch immer der gleiche schöne Mann – doch jetzt haftete ihm etwas Unmenschliches an. Die Erleichterung, die sie bis eben bei seinem Anblick empfunden hatte, machte einer unerklärlichen Angst Platz.
»Du bist also noch immer am Leben, Eisblut!« Jornas’ Stimme schreckte Cassim auf. Seine Finger gruben sich in ihren Arm, zogen sie näher heran. Sie stemmte die Hände gegen ihn und versuchte, ihn wegzudrücken. Sein Griff verstärkte sich und zwang sie stillzuhalten.
»Die Spiegelsplitter, Faun!« Morgwen sprach erschreckend sanft.
Jornas lachte höhnisch. »Du tätest besser daran, den Schwanz einzukneifen und zu deinem Herrn zurückzukriechen, Wolf.« Er murmelte zwei Worte, stieß jäh einen gellenden Schrei aus, ließ Cassim los, presste die Hände gegen den Kopf und brach in die Knie. Hastig wich sie von ihm zurück, starrte erschrocken auf ihn hinunter.
Vollkommen gelassen trat Morgwen auf den Faun zu, streckte schweigend die Hand aus. Jornas winselte, krümmte sich. Seine Finger bewegten sich, ohne es zu wollen, zu seinem Beutel hin. Er nestelte ihn auf, holte das Kästchen hervor. Jeder seiner Atemzüge war ein Wimmern. Er hielt Morgwen zitternd das Holzkästchen hin. In seinem Gesicht zuckte es wie vor Qual. Seine Glieder schlotterten so sehr, dass Morgwen zweimal zufassen musste, ehe er es in den Händen hielt. Von einem Moment auf den anderen erschlaffte der Faun. Über dem leise flüsternden Wind war sein schwaches Greinen kaum zu hören. Wortlos beugte Morgwen sich über ihn. Der Faun zuckte vor der Hand zurück, die sich nach ihm ausstreckte. Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle Morgwen Jornas bei der Kehle packen, doch dann griff er unter dessen Kragen und riss dem Faun etwas vom Hals.
Cassims Augen wurden groß, als sie erkannte, was da an einer schlichten Kette von seiner Hand baumelte und sich blitzend in der Kälte drehte – das Amulett ihrer Mutter: das Auge des Feuers.
»Woher …?«
Erst jetzt wandte Morgwen ihr seine Aufmerksamkeit zu. Das
träge Lächeln, das auf seinen Lippen lag, war weit jenseits aller Kälte. Ehe sie zurückweichen konnte, schloss seine Hand sich um ihr Handgelenk. »Woher er es hat?« Sein seidiges Schnurren nahm ihr den Atem. Er strich mit den Fingerknöcheln über ihren Kiefer hinauf zu ihrer Wange. Das Auge des Feuers folgte seiner Bewegung auf ihrer Haut. »Er hat es deinem Onkel abgekauft. Und er hat deinem Onkel einen Beutel Gold für dich bezahlt.«
Cassim schluckte trocken, blickte zu Jornas hin, der noch immer wimmernd im Schnee lag. »Woher …?«
»Woher ich das weiß?« Er legte die Finger unter ihr Kinn und wandte ihr Gesicht wieder zu sich zurück. Stumm nickte sie gegen den Druck seiner Fingerspitzen.
»Weil ich dort war, um das Gleiche zu tun. – Er war nur ein klein wenig schneller als ich.« In sein träges Lächeln mischte sich Arroganz.
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