Der Spiegel von Feuer und Eis
die schweißnassen schwarzen Strähnen zurück. Unter seiner kalten Haut lohte noch immer Hitze, aber man konnte ihn wieder anfassen, ohne sich an ihm zu verbrennen.
Stunde um Stunde hatten sie ihn abwechselnd festgehalten, wenn die Anfälle ihn von seinem Lager rissen. Die ekelhafte Medizin, gegen die er sich mit seinen schwindenden Kräften gewehrt hatte, hatten sie ihm zuweilen mit verzweifelter Gewalt eingeflößt.
Wieder und wieder hatten sie seine verhärteten Muskeln mit warmem Öl eingerieben, damit das Blut weiterfloss und das Gift sich nicht in ihnen festsetzen konnte. Hatten ihm den nach Eisen riechenden Schweiß von der brennenden Haut gewaschen, obwohl selbst ein Streicheln in seinem Zustand quälend war.
Mehr als ein hartes Keuchen war nie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorgedrungen. Jetzt lag er schlaff und reglos zwischen den Decken. Nur seine linke Hand war noch immer zur Faust gekrampft. Selbst im Fieber war er nicht bereit herzugeben, was auch immer er da umklammert hielt. Dabei hatten sie mehrfach versucht, seine Finger aufzubiegen und so die Gefahr zu verringern, dass das Gift sich in ihnen einnistete und seine Hand für immer lähmte.
Míren sah zu den Resten der öligen Flüssigkeit in einer flachen Schale, dann zu Gaeth, der sich auf der anderen Seite der kleinen, hastig errichteten Hütte aus Schnee und Reisig zusammengerollt
hatte. Auch wenn sie versucht war, es ihm zu ersparen und den Nibenkrautsaft einfach ins Feuer zu kippen: Ihre Befehle waren eindeutig.
Vorsichtig setzte sie Morgwen die Schale an die Lippen, träufelte ihm den Trank in den Schlund. Beinah sofort begann er zu würgen. Sie zwang ihn, den Nibenkrautsaft zu schlucken. Der ölige Sud war das Einzige, was die Wirkung des Eisens mildern konnte. Er musste ihn trinken!
Nach drei qualvollen Schlucken ließ sie es fürs Erste genug sein und bettete seinen Kopf zurück auf die Mäntel. Er atmete wieder schwerer, bewegte sich unruhig.
»Schscht! Ich bin da! Alles wird gut! Schlaf!«, besänftigend strich Míren erneut über seine Stirn. Mit einem schwachen Seufzen schmiegte Morgwen sich in die Berührung.
»Cassim?« Der Name war nur ein raues Flüstern. Seine Lider hoben sich langsam, kaum mehr als einen Spalt.
Sie erstarrte, dann beugte sie sich über ihn. »Nein, ich bin es, Míren. – Das Menschenmädchen ist mit dem Faun zusammen weitergezogen. Sie hat dich zurückgelassen.«
In den eisblauen Tiefen schwand ein weiterer Funken Wärme. Die Augen schlossen sich wieder. Seine linke Hand öffnete sich. Ein Blitzen von Gold und Grün fiel auf den Stoff.
Teil IV
Der Spiegel von Feuer und Eis
Um sie herum gab es nichts als Schnee und Kälte. Nebel waberte über der weißen Ebene. Das grelle Glitzern und sanfte Kerzenflammenschimmern von Eislichtern wirbelte um sie her, malte Schatten und wurde zu Gesichtern, die sich im nächsten Augenblick zu entsetzlichen Fratzen verzerrten. Sie hatten jeglichen Schrecken für Cassim verloren. Ihre Beine bewegten sich nur noch, weil Jornas sie dazu zwang. Er zwang sie zum Essen und zum Schlafen. Sie hatte ihn gekratzt und gebissen. Einmal war es ihr sogar gelungen, zu fliehen. Sie war nicht weit gekommen. Als er sie von Morgwen weggezerrt hatte, hatte sie sich geschworen, gegen ihn zu kämpfen, sich nicht von ihm benutzen zu lassen – inzwischen war sie zu erschöpft, um noch einmal davonzulaufen. Irgendwann hatte er ihr sogar die Fesseln von den Händen genommen.
Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange sie bereits durch dieses nie endende Weiß taumelte, wusste sie nicht. Vier Tage? Fünf? Sechs? Ihr Körper war taub vor Müdigkeit und Erschöpfung und Kälte. Hätte Jornas’ Griff an ihrem Arm sie nicht unerbittlich weitergezerrt, wäre sie damit zufrieden gewesen, sich hinzulegen und still einzuschlafen, ohne jemals wieder zu erwachen. Sie hatte sich gefragt, ob sie dann auch zu einem der Eislichter werden würde, genau wie jene, die vor ihr in dieser weißen Unendlichkeit gestorben waren. Vielleicht wäre es das Beste. Wenn sie nicht mehr lebte, mussten sie alle sich eine andere Marionette suchen. Der Umstand, dass Morgwen sie hintergangen hatte, schmerzte fast ebenso sehr, wie es der Tod ihrer Eltern getan hatte. Doch seltsamerweise verschaffte es ihr keine Genugtuung, dass das Gift des Eisens ihn getötet
hatte – im Gegenteil: Es machte jeden Gedanken an ihn nur noch unerträglicher.
Dass Jornas stehengeblieben war, bemerkte sie erst, als sie gegen ihn
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