Der Spiegel von Feuer und Eis
»Aber letztendlich bin doch ich es, der dich bekommen hat.«
»Bekommen?« Sie fühlte sich seltsam benommen, so als sei sie gerade erst aus einem tiefen Schlaf erwacht. »Nein …« Schwach schüttelte sie den Kopf, versuchte noch einmal zu leugnen, was offensichtlich war. »Das in der Gasse warst du?« Es gelang ihr nicht, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Sag, dass ich mich irre! Sag es!
»Schuldig!« In dem Wort klang höhnisches Gelächter.
Wir fürchteten schon, mein Sohn sei zu spät gekommen, um dich zu retten … mein Sohn sei zu spät gekommen … mein Sohn …
Nein! Bitte, nein! »Dann bist du … Du bist … der Eisprinz?«
Dieses Mal lachte er wirklich. »Und wieder schuldig!« Er schob das Kästchen mit den Spiegelsplittern und den Anhänger unter sein Hemd.
»Dann war das alles geplant?« In ihrer Kehle saß ein Brennen. Nein! Bitte! Bitte, nein!
Das Gelächter wurde zu einem boshaften, trägen Grinsen.
»Nicht alles. Lyjadis war äußerst ungehalten über deine Flucht aus ihrem Kerker.« Er trat so dicht an Cassim heran, dass sie seinen Atem kalt über ihr Gesicht streichen fühlte. »Zuerst wollte sie, dass ich dich zurückbringe. Aber ich konnte sie davon überzeugen, dass es eine viel einfachere Lösung für ihr Problem gab.« Seine Finger spielten mit einer verirrten Strähne, gruben sich dann langsam in ihr Haar. »Es war so leicht, dein Vertrauen zu gewinnen.«
Cassim schluckte gegen den Kloß in ihrer Kehle an. »Dann war … alles gelogen?«
Er beugte sich so nah zu ihr, dass sein Mund beinah den ihren berührte. »Jedes Wort«, hauchte er in eisigem Spott.
Schwach schüttelte sie den Kopf. »Nein! Ich … In dem Versteck unter Ernans Haus … Ich habe doch gesehen, wie sehr du die Eiskönigin hasst.«
Das Lächeln vertiefte sich wieder. Seine Finger streichelten und kosten ihren Nacken. »Du hast das gesehen, was ich dich sehen lassen wollte.«
»Aber … Ich … Ich dachte …« Cassim biss sich auf die Lippe, bis es schmerzte.
»Falsch gedacht.« Seine Stimme war zu einem Schnurren herabgesunken.
»Du hast mich geküsst.« Die Worte waren kaum mehr als ein verzweifeltes Flüstern.
»Ja. Und weiter? Soll ich es wieder tun?« Sein Mund streifte ihren.
Sie wandte das Gesicht ab. Heiße Schleier waren vor ihren Augen. Mühsam blinzelte sie, bis sie verschwanden. »Ich hasse dich!«
Mit einem Laut, halb Schnauben, halb Gelächter, trat er zurück. »Jetzt übertreibst du aber. Um jemanden hassen zu können, müsste man ihn zuvor geliebt haben.« Von einem Atemzug auf den anderen gefror Eis in seinem Ton. »Aber jemanden, den man liebt, lässt man nicht einfach zum Sterben im Schnee
zurück, oder – Liebling? – - Komm jetzt!« Er drehte sie um und wollte sie vorwärtsziehen.
»Zurück…?« Cassim stemmte sich gegen seinen Griff. »Aber ich wollte dich nicht zurücklassen. Jornas …«
»Nein, natürlich nicht! Deshalb warst du ja auch da, als ich wieder zu mir kam.« Er stieß ein hartes Lachen aus. »Du bist wie die ganze andere selbstsüchtige Menschenbrut. Ihr tut etwas, und wenn ihr den Preis für eure Tat bezahlen sollt, versucht ihr, euch herauszulügen. – Vorwärts! Lyjadis ist schon ungeduldig.« Ohne auf ihr Sträuben zu achten, zerrte er sie hinter sich her.
»Morgwen, bitte …« Sie schrie erschrocken auf, als er jäh zu ihr herumzuckte.
»Morgwen, bitte was? – Bitte, glaube mir? Bitte sprich nicht so? Bitte tu mir nicht weh? Bitte lass mich am Leben? « Er zog sie so nah zu sich, dass keine Handbreite mehr zwischen ihnen war. »Du wirst sterben, Menschenmädchen, ganz gleich wie sehr du bettelst und wimmerst. Das solltest du von Anfang an.« Kalt und liebkosend streichelten seine Finger über die empfindsame Stelle unter ihrem Ohr. »Das Einzige, worauf du vielleicht hoffen kannst, ist, dass ich dich nicht zu Lyjadis zurückbringe, wie Sie es will, sondern dir ein schnelles Ende bereite. Aber das werde ich nur, wenn du den Spiegel so zusammensetzt, wie Sie es wünscht.«
Bebend hob Cassim das Kinn. Schneeflocken tanzten aus dem Himmel, legten sich auf ihre Wangen. »Und wenn ich es nicht tue?«
Morgwen beugte sich näher zu ihr. Seine Aquamarinaugen hatten sich in helle, klare Gletscherseen verwandelt, in deren Tiefen ein Ungeheuer lauerte. »Du wirst es tun. Oder du wirst darum betteln, es tun zu dürfen.«
Der Blick in diese Tiefen genügte, um zu wissen, dass er nicht davor zurückschrecken würde, ihren Gehorsam zu erzwingen. Cassim
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