Der Spiegel von Feuer und Eis
Zischen und Brodeln. Auf seiner anderen Seite erhob sich der Weiße Avaën vor dem nächtlichen Firmament, glitzernd wie ein Diamant in der Farbe der Mitternacht, dessen unzählige Facetten mit schimmerndem Weiß bestäubt waren.
Der Eisprinz zügelte den keuchenden Hengst. Unruhig tänzelnd schlug er mit dem Kopf, dass seine Mähne flog. Schnee stob unter seinen Hufen auf, er stieg halb auf die Hinterhand, schnaubte scharf, um schließlich doch still zu stehen.
Tief unten, auf der Ebene am Fuß des Avaën, flackerte der gelborange Schein vieler Feuer. Cassim glaubte, Menschen zu sehen, die sich zwischen ihnen bewegten, in der Entfernung kleiner als Ameisen. Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, schien der Wind ihre Stimmen als Flüstern bis zu ihr heraufzutragen – zusammen mit dem Klirren von Waffen. Das dort unten war ein Heerlager. Sie zuckte zusammen, als ein riesiger Vogel sich mit einem hellen Schrei aus seiner Mitte erhob. Schwingen und Schweif waren aus lodernden Flammen und auch sein Körper brannte. Einen Augenblick kreiste er über dem Lager. Sein Kiaha, Kiaha schallte durch die Nacht. Dann drehte er ab und flog davon, fort vom Berg, auf ein Meer aus unzähligen kalten blauen Feuern zu, das in die Ferne loderten. Ihr entfuhr ein unhörbares Keuchen, als sie begriff, was sie da sah. Ein zweites Heerlager – ungleich größer als das erste am Fuß des Berges. Der Lord des Feuers und die Eiskönigin, sie waren beide hier.
Cassim wandte sich um, sah den Eisprinzen an, der offenbar gelassen in die Tiefe blickte. Seine Miene verriet ihr, dass er es gewusst hatte. Mit einem Schnalzen trieb er den Frosthengst wieder voran. Cassim konnte den Blick nicht von den beiden
Heerlagern wenden. Die Krieger des Lords des Feuers waren denen der Eiskönigin zahlenmäßig unendlich unterlegen.
Abgesehen von dem leisen Wispern des Schnees und dem seltsamen Brodeln des Abgrunds war nichts als Stille um sie her. Das Klicken, mit dem die Hufe des Hengstes auf das Eis des Plateaubogens trafen, klang in ihr umso lauter. Schritt für Schritt überquerte er die glitzernde Brücke. Durch das Eis hindurch meinte Cassim, in der Tiefe ein feuriges Glühen zu sehen. Zuweilen glaubte sie, ein helles Knacken zu hören, als würde der schimmernde Boden jeden Moment unter ihnen nachgeben wollen. Flüsternd fegte eine Windböe über den kalten Bogen, trieb einen Wirbel aus Schnee vor sich her, der in der Dunkelheit gespenstisch schimmerte. Funken stoben aus dem Abgrund, trugen Hitze mit sich und wurden davongeweht, um in der Kälte zu verlöschen. Der Frosthengst schnaubte und warf einmal mehr den Kopf auf. Bedächtig setzte er seine Hufe auf dem Eis. Offenbar war er sich des endlosen Abgrunds unter dem glitzernden Bogen ebenso bewusst wie Cassim. Ihre Finger hatten sich wie von selbst in den Arm geklammert, der um ihre Mitte lag. Doch auch als ihr klar wurde, was sie da tat, gelang es ihr nicht, sie zu lösen. Das gleichmäßige Klick, Klack, Klick, Klack der Tritte schien durch die Nacht bis in das feurige Nichts der Kluft zu hallen. Die Ohren des Hengstes zuckten angespannt.
Nur allmählich schälte sich das Ende der schimmernden Brücke aus der Dunkelheit – und mit ihr die beiden mächtigen Gestalten, die sie bewachten. Auf der einen Seite breitete ein riesiger Vogel, dessen Gefieder zu Eis erstarrtes Feuer zu sein schien, seine gewaltigen Schwingen aus und reckte den aufgesperrten Schnabel den Eindringlingen entgegen, während sich auf der anderen ein kaum weniger großer Wolf, mit einem Fell aus geronnenem Frost, zum Sprung duckte und in stummer Drohung seinen fürchterlichen Rachen aufriss. Die Kreaturen schienen bereit, jeden in ihren Fängen zu zerreißen, der
es wagen sollte, einen Fuß auf den schneebedeckten Weg zu setzen, der an ihnen vorbei den Berg hinaufführte. Klick, Klack, Klick, Klack, Klick, Klack. Schritt um Schritt um Schritt näherte der Frosthengst sich diesen fürchterlichen Wächtern. Cassims Nägel krallten sich noch fester in das kalte Fleisch des Eisprinzen, sie wagte kaum zu atmen – bis sie begriff, dass diese Kreaturen nur Geschöpfe aus Eis und Stein waren.
Dann trat der Hengst zwischen ihnen hindurch und unter seinen nun wieder tänzelnden Hufen wirbelte Schnee auf. In einer Mischung aus Staunen und Erleichterung blickte Cassim zu den gewaltigen Wächtern empor und schauderte unwillkürlich. Auch wenn sich ihre Haltung nicht verändert hatte, so schienen ihre seltsam glimmenden Augen sie
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