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Der Spiegel von Feuer und Eis

Der Spiegel von Feuer und Eis

Titel: Der Spiegel von Feuer und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Morrin Alex
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schrecklichen Fängen die Kehle eines Rehs und verschlang gierig das
noch warme Fleisch. Dicke weiße Flocken rieselten auf sein zottiges Fell, das über vorstehenden Rippen spannte. – Und obwohl diese Szene ebenso viel Platz einnahm wie die anderen, erschien es doch, als würde sie den Raum beherrschen.
    Cassim schlang die Arme um sich. Nur allmählich gelang es ihr, den Blick von den schimmernden Wänden zu lösen und sich dem tausendfach gebrochenen Glitzern zuzuwenden, das auf dem Boden blitzte: den Splittern des Spiegels von Feuer und Eis. Sie waren im ganzen Raum verteilt. Einige groß wie ihre Handfläche, andere kaum mehr als ein Samenkorn. Ein kunstvoll getriebener Rahmen aus Silber und Gold lag zwischen ihnen. Mit einem Mal war ihre Kehle eng. Ein Stoß beförderte sie die letzte Stufe empor. Sie stolperte in den Saal hinein – von einem Herzschlag auf den anderen war sie wie aus einer dumpfen Benommenheit erwacht – und blieb inmitten der Scherben stehen, kaum dass sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Nein! Ich werde es nicht tun! Niemals! Langsam drehte sie sich um, sah den Eisprinzen an, schüttelte stumm den Kopf.
    Seltsam zögernd betrat er den Saal, kam auf sie zu. Seine Hand legte sich in ihren Nacken, zog sie dicht heran. »Tu es freiwillig, oder bettle darum, es tun zu dürfen.« Aus den Tiefen der Gletscherseen blickte die Bestie sie an.
    Cassim stemmte sich gegen seine Brust, um von ihm fortzukommen. Er ließ sie so plötzlich los, dass sie rücklings zu Boden stürzte. Eine Spiegelscherbe schnitt schmerzhaft in ihre Finger. Sie hörte ihr Flüstern. Mit einem Keuchen riss Cassim den Arm zurück. Und erstarrte, als der Eisprinz sich vor sie kauerte, das Kästchen unter seinem Hemd hervorzog und seinen glitzernden Inhalt mit leisem Klirren auf seine Handfläche gleiten ließ.
    »Entscheide dich.« Er hielt ihr die Splitter entgegen. Cassim starrte sie an, weigerte sich, sie anzufassen.
    Sein spöttisches Gelächter ließ sie den Blick zu ihm heben. Offenbar deutete er ihr Zögern falsch.

    »Keine Angst. Sie werden in dir nicht die Gier wecken, sie zu besitzen und wieder zusammenzufügen, um dir ihre Macht für deine eigenen Zwecke zunutze zu machen, wie sie es schon bei so vielen Sterblichen getan haben.« Die Scherben glitzerten auf seiner Handfläche, als er sie ihr direkt vor die Augen hielt. »Du bist sicher vor ihrer Magie, so wie jede andere Frau aus deiner Familie.«
    Cassim rutschte ein Stück weiter zurück. Unter ihren Händen knirschten die Splitter auf dem Boden. Sie wisperten und lockten. Ihre Finger streiften etwas Weiches. Sie wagte einen hastigen Blick. Unter den Bruchstücken des Spiegels lag eine Haarbürste aus gehämmertem Silber, geschmückt mit kunstvollen Intarsien aus Gold und Rubinen. Rasch riss sie den Blick von dem hier so fremdartig wirkenden Ding, verdrängte ihr Erstaunen und betete, dass er es nicht auch gesehen hatte. »Und warum konntest du sie anfassen?« Langsam schlossen ihre Finger sich um den schlanken, kühlen Griff. Ein paar Scherben rutschten klickend auseinander.
    »Wir sind die gleiche Magie, der Spiegel und ich.« Sein Ton gefror zu Eis. »Und nun mach dich an die Arbeit!«
    Voller Verzweiflung schlug Cassim zu. Er war die Winzigkeit eines Blinzelns schneller, zuckte vor dem silbrigen Gegenstand zurück, der auf seinen Kopf zielte – und doch nicht schnell genug. Auch wenn der Hieb ihn nur an der Schläfe streifte, genügte er doch, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Splitter auf seiner Hand klirrten zu Boden, und noch während er einen Sturz zu verhindern suchte, war Cassim schon auf den Beinen und an ihm vorbei. Sie hatte die Stufen noch nicht erreicht, da hatte er sie schon wieder um die Mitte gepackt und zurückgerissen. Die Bürste entglitt ihr und prallte krachend gegen eine Wand. Zorn verzerrte seine Züge, er hatte sie so dicht zu sich herangezogen, dass sein Atem kalt ihr Gesicht traf. Cassim riss das Knie empor, traf auf Widerstand. Seine Augen weiteten sich. Ein würgender Laut kam aus seiner Kehle.
Sein Griff löste sich. Vergebens rang er nach Luft. Seine Beine knickten ein. Er krümmte sich vornüber. Hastig wich Cassim zurück, selbst ein wenig erschrocken über das Ausmaß ihrer Tat. Irgendwie schaffte er es über all der Qual, den Kopf zu heben und sie anzusehen. Noch immer versuchte er erfolglos zu atmen. Schock und nackte Pein standen in seinen Augen – und das Versprechen auf Schlimmeres als den Tod.
    Cassim

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