Der Spiegel von Feuer und Eis
dennoch unablässig zu beobachten. Ein letztes Schnauben und Mähneschütteln, und der Frosthengst fiel wieder in seinen kraftvollen Galopp, mit dem er sie rasch den unter einer dicken Schneeschicht begrabenen Weg hinauftrug. Erst jetzt schaffte Cassim es, den Griff ihrer Finger zu lockern und tiefer zu atmen.
Der Aufstieg führte zwischen schroff aufragenden Felsnadeln und an senkrecht in die Dunkelheit emporwachsenden Steilhängen entlang, unter glitzernden Überhängen aus Stein und Schnee hindurch und stieg in langen Windungen sacht den Berg hinauf. Mit jedem Galoppsprung schien die Kälte zuzunehmen. Obwohl der Tritt unter dem diamantglitzernden Weiß vollständig verborgen war, setzte der Hengst seine Hufe mit gelassener Sicherheit.
Der Gipfel des Avaën war noch immer nur ein schwach zu erahnendes Schimmern weit über ihnen vor dem Sternenblitzen des Nachthimmels, als der Weg auf einem weiteren Plateau endete und der Eisprinz den Frosthengst zum Stehen brachte. In den schwarz glitzernden Felsen öffnete sich ein mächtiger Torbogen in das dunkel schimmernde Innere des Berges. Tief unter ihnen waren die beiden Heerlager nicht mehr als orange und blau glimmende Funken auf der Ebene, die sich in die Unendlichkeit
erstreckte. Hoch über ihr wob sich Nordfeuer als schillerndes Band aus Licht am nächtlichen Firmament. Cassim spürte einen Kloß im Hals, als sie unwillkürlich daran dachte, wie Morgwen ihr die Legende von dem schlafenden Drachen hoch über dem Tal von Temair erzählt hatte.
Hinter ihr war der Eisprinz vom Rücken des Hengstes geglitten. Jetzt stand er neben dem Tier, eine Hand auf der weiß schimmernden Schulter. Still schaute sie auf ihn hinab – und entdeckte, dass auch er zu dem Band aus Nordfeuer blickte. Das Schnauben, mit dem der Frosthengst in den Schnee stampfte, ließ ihn aufsehen. Seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Wortlos bedeutete er ihr abzusteigen. Cassim gehorchte. Ihre Beine gaben unter ihr nach, sie taumelte gegen ihn. Brüsk schob er sie von sich fort. An seiner Wange zuckte es. Dann wandte er sich abrupt von ihr ab, trat auf den Frosthengst zu, klopfte ihm kurz den Hals. Für einen Moment senkte das Tier den Kopf, nur um sich jäh mit einem wilden Wiehern aufzubäumen. Auf der Hinterhand warf der Hengst sich herum, galoppierte davon und zerstob zu wirbelndem Schnee.
Als der Eisprinz sich ihr wieder zuwandte, trat sie unbewusst einen Schritt zurück. Spott zuckte um seinen Mund. Mit jener raubtierhaften Geschmeidigkeit, die sie so oft in Morgwens Bewegungen gesehen hatte, kam er auf sie zu. Seine Hand strich über ihre Kehle, ehe sie ihm ausweichen konnte. Irgendetwas zwang sie zu einem würgenden Husten. Es klang in ihren eigenen Ohren beinah unerträglich laut.
»Hier oben sind wir unter uns. Schrei, so viel du willst.« Er packte ihren Arm und wollte sie vorwärtszerren. Cassim befreite sich mit einem Ruck.
»Ich kann alleine gehen«, stieß sie zwischen Husten und Keuchen hervor. In ihrem Hals saß ein Kratzen, das ihre Stimme rau färbte. Seine Lippen verzogen sich höhnisch, dann wies er mit einer übertrieben tiefen Verbeugung auf den mächtigen Torbogen.
Die Hände zu Fäusten geballt, um sie am Zittern zu hindern – ob aus Wut oder Angst konnte Cassim selbst nicht sagen -, ging sie an ihm vorbei und trat durch den Bogen. Er folgte ihr so dicht, dass sie seinen Atem kalt auf ihrem Nacken zu spüren glaubte.
Sie hatten kaum das Innere des Weißen Avaën betreten, als es begann. In den makellos klaren Wänden aus Eis loderten Flammen auf, blau und orange, tauchten alles in kaltwarmes Licht. Die Decke des Ganges wölbte sich über ihnen, geschmückt mit kunstvoll gearbeitetem Blattwerk und ineinanderverschlungenen Ästen, dass man glaubte, unter den ausladenden Kronen uralter Bäume hindurchzuschreiten. Flache, lang gestreckte Stufen, die abwechselnd mit einem Muster aus Eis und Feuer verziert waren, führten allmählich aufwärts und dabei immer weiter in die Tiefen des Berges hinein.
Langsam stieg Cassim die Treppe hinauf. Das Eis schimmerte und glitzerte. Direkt hinter sich konnte sie den Eisprinzen spüren. Zuweilen glaubte sie ihn so nah, dass sie die Kälte fühlte, die von ihm ausging. Schweigend folgte er ihr die Stufen empor, die sich immer tiefer in den Avaën hineinwanden. Von Zeit zu Zeit beschrieben sie einen anmutigen Bogen um einen funkelnd aufragenden Stalagmiten aus Eis oder um eine Säule aus in Eis erstarrtem Feuer, bogen scharf
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