Der Spiegel von Feuer und Eis
Unter einem seiner Eishufe stob Schnee auf, als er ungeduldig aufstampfte. An der muskulösen Schulter zuckte es unter dem glitzernden Fell. Und dann begriff Cassim – und machte einen Schritt rückwärts. Sie stieß gegen die Brust des Eisprinzen, der direkt hinter ihr stand. Halb wandte sie sich zu ihm um, schüttelte in hilflosem Flehen den Kopf. Sich im Sattel eines Jern zu halten, war ihr schon schwergefallen, aber auf dem nackten Rücken dieses mächtigen Geschöpfes? Das ist unmöglich!
Seine Lippen verzogen sich spöttisch. »Dachtest du ernsthaft, ich wollte den ganzen Weg von hier bis zum Weißen Avaën laufen? – Ich habe Fennor gerufen, damit er uns hinbringt.« Er beugte sich dichter zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern. Kalt streifte sein Atem ihren Hals. »Du wirst die einzige Sterbliche sein, die jemals von sich sagen kann, sie habe auf dem Rücken eines Geschöpfes aus Schnee und Sturm gesessen«,
raunte er direkt neben ihrem Ohr. Im nächsten Herzschlag packte er sie um die Mitte und hob sie auf den Frosthengst. Cassims entsetzter Schrei wurde zu einem Keuchen, als das Geschöpf unter ihr zu tänzeln begann. Ihre Hände krampften sich in die dichte, schwere Mähne, die sich wie Seide und Eis zwischen ihren Fingern anfühlte. Verzweifelt klammerte sie sich an ihrer Kälte fest, davon überzeugt, dass sie sich jeden Knochen brechen würde, wenn sie herunterfiel. Beinah hätte sie vor Erleichterung die Augen geschlossen, als der Eisprinz einen Moment später hinter ihr auf den Rücken des Frosthengstes glitt. Doch stattdessen krallte sie sich nur noch fester, da das Geschöpf mit einem Wiehern halb auf die Hinterhand stieg und im Kreis zu treten begann, kaum dass seine Hufe wieder den Boden berührt hatten. Ein dunkles Lachen streifte ihre Schläfe, als der Eisprinz an ihr vorbeigriff, seinerseits eine Hand in der Mähne versenkte und die andere um ihre Mitte legte. Erneut bäumte sich der Hengst auf, doch nur um diesmal aus dem Stand loszupreschen.
Hätte sie es gewagt, die Eisseidenmähne loszulassen, hätte sie die Hände vors Gesicht geschlagen, um nichts sehen zu müssen. Der Boden flog unter den glitzernden Hufen dahin. Kalter Wind peitschte ihr entgegen, nahm ihr den Atem und trieb Tränen in ihre Augen, die noch an ihren Wimpern gefroren. Unter dem Fell aus Frost und Schnee spannten sich die mächtigen Muskeln des Hengstes bei jedem seiner kraftvollen Galoppsprünge. Sein helles Wiehern mischte sich mit dem wilden Gelächter des Eisprinzen, und Cassim begriff, dass sie nicht zum ersten Mal in dieser wahnsinnigen Geschwindigkeit gemeinsam dahinjagten. Sie wagte einen hastigen Blick über die Schulter – und fand den Mann, den sie kannte, in den glitzernden Aquamarinaugen. Doch dann sah er sie an und das Ungeheuer war zurück. Sein Mund verzog sich, die Hand, die um ihre Mitte gelegen hatte, hob sich, strich über ihr Gesicht, ohne sie zu berühren. »Schlaf!«
Cassim sackte gegen seine Brust. Das Letzte, was sie spürte, ehe die Dunkelheit sie verschlang, war der gewaltige Satz, den der Frosthengst in die Höhe machte.
Als Cassim die Augen öffnete, war es Nacht. Sie musste eingeschlafen sein, denn sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war. In ihrem benommenen Verstand war nichts außer einem seltsamen Traum. Darin war sie auf dem Rücken des Frosthengstes, gegen Morgwens Brust gelehnt, dahingaloppiert – sicher von seinem Arm um ihre Mitte gehalten. Tief, tief unter ihnen war eine weiße Ebene vorbeigehuscht, die irgendwann von den dichten Baumkronen eines Waldes abgelöst wurde. Ein Rudel grauweißer Maunhirsche war aufgeschreckt auf einer Lichtung unter ihnen davongestoben und gleich darauf zwischen den Bäumen verschwunden. Schneeflocken hatten ausgelassen um sie her getanzt. Irgendwann hatte sich der Himmel über ihnen in schwarzen Samt verwandelt, auf dem Diamanten blitzten, während unter ihnen eisbedeckte Felsen ihre Gipfel trotzig in die Dunkelheit gereckt hatten. Und die ganze Zeit hatte sie sicher und warm in Morgwens Armen gelegen.
Müde blinzelte sie den verrückten Traum fort. Um sie herum ragten Bäume in den mondlosen Nachthimmel. Obwohl sanft zischend Schnee auf sie herabfiel und sich auf ihre Stirn und die Wangen legte, war ihr in dem Umhang aus Leder und Fell erstaunlich warm. Mit dem Gefühl der Geborgenheit kuschelte sie sich tiefer hinein. Unter ihr verlagerte der mächtige Frosthengst sein Gewicht und schnaubte leise. Von einem
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