Der Spiegel von Feuer und Eis
um eine glänzende, halb durchscheinende Mauer, in der sie sich als Schatten spiegelten. Cassims Atem trieb als fahler Dunst davon. Wann immer sie sich zu dem Mann hinter ihr umschaute, ertappte sie ihn dabei, wie sein Blick über die kunstvoll gearbeitete Decke glitt, über die Zweige, zwischen deren Blättern sich Blüten entfalteten, Eichhörnchen mit aufgestellten Schwänzen neugierig hervorlugten und kleine Vögel ihre Schwingen ausbreiteten. Doch obwohl er offenbar noch niemals einen Fuß an diesen Ort gesetzt hatte, schien er genau zu wissen, wohin er sie bringen musste.
Gänge zweigten von den stetig bergauf führenden Stufen ab.
Einige nicht mehr als mannshohe Stollen, in denen Dunkelheit schimmerte, andere breit, mit hoher gewölbter Decke und wunderschönen Reliefs. Keinen von ihnen schenkte er Beachtung.
Und dann endeten die Stufen.
Cassim konnte nicht sagen, wie lange sie ihnen gefolgt waren, ob ihr Gefühl sie trog und sie sich nicht ganz in der Nähe des Gipfels befanden. Hinter einem mit verschlungenen Ranken geschmückten Türbogen öffnete sich ein gewaltiger ovaler Saal aus spiegelndem Eis, unter dem zugleich der fast verloschene Schein von Feuer glomm. Mächtige Sintersäulen trugen die gewölbte Decke, die sich hoch über ihnen in glitzernder Schwärze verbarg. Flammen in Blau und Orange zuckten in ihnen, hundertfach zurückgeworfen von den glattschimmernden Wänden. Schnee trieb in blitzenden Wirbeln über den blanken Boden, tanzte mit Böen aus Frost und Reif.
Eine kalte Berührung an ihrer Schulter brachte sie dazu, den Saal zu durchqueren. Ohne zu wissen, warum, zitterte sie. Ihr Herz schlug viel zu schnell. Unter der Kuppel hallten ihre Schritte wider und wurden von den Wänden verschluckt.
Am gegenüberliegenden Ende des Saales führten drei Stufen in einen zweiten Saal, ungleich kleiner als der erste und doch auf eine schlichte Art unendlich viel schöner.
Auch hier waren die Wände glitzernde Spiegel aus Eis und Glut und zugleich prächtige Reliefgemälde, die jede Handbreit ihrer glatten Fläche bedeckten. Es war vollkommen still.
Zu ihrer Linken, direkt neben den Stufen, reckte ein Baum seine noch kahlen Zweige in den Himmel. Doch Cassim glaubte zu sehen, wie Blätter an ihnen sprossen, wie feine Knospen sich zu ihnen gesellten, nur um sich zu herrlichen Blüten zu öffnen. Um seinen Stamm reckten Blumen ihre Köpfe aus der Erde, neigten sich den ersten wärmenden Sonnenstrahlen zu. Tiere kamen aus ihren Höhlen unter seinen Wurzeln, tummelten sich in dem Meer der allmählich erwachenden Farben. Ein
Igel verspeiste einen sich windenden Wurm, während ein paar Hasenkinder sich zwischen jungen Grashalmen jagten. Über ihren Köpfen tschilpten Vögel auf den Ästen.
Direkt daneben brannte die Sonne heiß auf den Boden herab. Die Zweige des Baumes waren schwer von Früchten, die unter ihrer Glut allmählich reiften. Eine Ricke und ihr Kitz suchten Schutz in seinem Schatten. Um den Stamm hatte sich das Gras in eine blühende Wiese verwandelt, über der herrliche Schmetterlinge ihre hauchzarten Flügel ausbreiteten und von Blume zu Blume flatterten. Dahinter erstreckte sich ein Kornfeld, dessen Ähren sich schwer und reif an ihren Halmen neigten. Ein Fuchs lauerte einer Maus vor ihrem Loch auf und verzehrte sie dann genüsslich, während ein lauer Windhauch durch die Blätter über ihm strich und sie zum Rascheln brachte.
Nur ein Stückchen weiter war aus dem Windhauch ein Sturm geworden, der regenschwere Wolken über den Himmel jagte und die Blätter des Baumes von den Ästen riss. Zwischen dem Laub lagen seine heruntergefallenen, reifen Früchte im Gras. Ein Vogel pickte an einer, während ein Igel an einer anderen knabberte. Auf dem Feld war das Korn geerntet, zurückgeblieben war Stroh. Ein Maul voll der trockenen Halme in der Schnauze, verschwand eine Maus in ihrem Loch, um sich ihr Heim damit behaglich zu polstern. Zwischen den Zweigen hatte eine Spinne ihr Netz gewoben und hastete nun auf eine darin zappelnde Fliege zu, um ihre Beute zu verspeisen. Ein Eichhörnchen verschwand in einem Astloch, die Backen rund von Nüssen.
Der letzte Teil des Reliefs, zur Rechten der Stufen, ließ Cassim schaudern. Kahl reckte der Baum seine Zweige gegen einen grauen Himmel. Sein Stamm war mit Eis überzogen. Ein paar seiner Äste waren abgebrochen und ragten nackt und tot aus dem Schnee, der alles unter sich begraben hatte. Zwischen Frost und Kälte zerriss ein mächtiger Wolf mit seinen
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