Der Spiegel von Feuer und Eis
rutschten aus, fingen sich, zuweilen gab ein Balken unter ihren Tritten nach, stürzte in die Tiefe und drohte sie mitzureißen. Armbrustbolzen schlugen in Kaminsteine, bohrten sich in Schindeln, manchmal mehr als einen Schritt von ihnen entfernt, manchmal kaum mehr als eine Handbreit.
Das letzte Dach endete abrupt vor einer mindestens drei Schritt breiten Gasse. Mit rudernden Armen kamen sie zum Stehen, klammerten sich keuchend aneinander. Schnee rieselte von der Kante unter Cassims Stiefeln in die Tiefe. Morgwen machte einen Schritt rückwärts, ein Balken knarrte, knackte und gab nach. Cassim schrie, als ein Armbrustbolzen so dicht an ihr vorbeizischte, dass sie den kalten Luftzug spürte. Sie blickten zurück. Kaylens Männer kamen unaufhaltsam näher. Neben ihr sah Morgwen abschätzend über den Abgrund. Sie ahnte, was dieser Ausdruck in seinen Augen zu bedeuten hatte, und schüttelte entsetzt den Kopf.
»Das schaffen wir nicht.« Ihre Lungen brannten und bei jedem Atemzug schien sich ein Dolch in ihre Seite zu bohren.
»Doch!« Morgwen beugte sich ein Stück vor, lugte über den Rand, als suche er etwas, dann zog er sie vorsichtig vom Dachgesims weg, zum First hin. Ein Bolzen schlug direkt neben seinem Fuß ein. Er beachtete es nicht. Die Balken knackten unter ihren Schritten, eine Schindel löste sich, klirrte in die Tiefe. Erst am Kaminstein blieb er wieder stehen. Nur noch zwei Dächer trennten sie von den Handlangern des Prinzen.
»Wir springen!«
»Nein!«
»Wir schaffen das, Flammenkatze! Vertrau mir!« Er packte Cassims Hand fester und rannte los. Sie hatte gar keine andere Wahl, als zu tun, was er von ihr erwartete.
Das Dach krachte unter ihren Füßen, gab nach, brach unter
ihren Schritten weg. Das Sims kam unaufhaltsam näher, dann klaffte der Abgrund vor ihnen, war unter ihnen. Das andere Dach! Cassim rutschte ab, stürzte. Morgwen drehte sich, versuchte, sie zu halten. Mit voller Wucht prallte sie gegen ihn, riss ihn um, landete so hart auf seiner Brust, dass ihm die Luft mit einem Keuchen entwich. Ihr Schwung ließ sie mit dem Kopf voran abwärtsschlittern. Schindeln stoben, sie hörte sich selbst schreien, klammerte sich an Morgwen und presste das Gesicht in sein Hemd. Mit einem Ruck kamen sie zu einem Halt. Abgesehen von einem leisen Knarren war es erstaunlich still. Selbst die Stimmen von Prinz Kaylens Männern waren verstummt. Nur ganz langsam wagte Cassim es, den Kopf zu heben. Unter ihr rang Morgwen hart nach Atem. Balken knarzten warnend.
»Nicht bewegen!« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Keine halbe Armlänge von ihnen entfernt endete das Dach. Ganz langsam drehte er den Kopf. Ein neuerliches Knacken ließ ihn erstarren. Beide zuckten zusammen, als direkt neben ihnen ein weiterer Bolzen einschlug. Dann brach das Dach. In einem Wirbel aus Holz, Schindeln, Eis und Schnee ging es krachend in die Tiefe.
Stille und tanzende weiße Flocken waren um sie herum, als Cassim endlich den Kopf hob. Morgwen lag unter ihr, die Hände halb erhoben, regungslos. Stroh hing in seinem schwarzen Haar.
»Morgwen?!«
Pfeifend sog er die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch ein. »Könntest du dein Knie da wegnehmen, Flammenkatze?« Er klang, als würde er gleich ersticken. Als Cassim nicht reagierte, fügte er ein gequältes »Bitte!« hinzu. Hitze kroch über ihre Haut, als sie begriff. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht, tat, worum er gebeten hatte. Mit einem erleichterten Seufzen atmete er aus. »Bist du verletzt?«
Irgendwie gelang es ihr, den Kopf zu schütteln. Ein Zittern durchlief mit einem Mal ihren Körper, das nichts mit der Kälte
zu tun hatte. Wir müssten tot sein! Feuer und Erde, wir müssten tot sein! Sie vergrub das Gesicht an seiner Brust. Ganz langsam, beinah zögernd, schlossen seine Arme sich um sie.
»Schscht, Flammenkatze! Scht, ruhig! Alles ist gut!«, murmelte er an ihrem Ohr, während er sie festhielt. Beruhigend strichen seine Hände über ihren Rücken.
»Wie rührend. – Ein Taschentuch, Freunde, ich breche in Tränen aus!« Die Stimme triefte vor Hohn. Nicht minder höhnisches Gelächter antwortete ihr. Morgwens Bewegungen gefroren. Cassim klammerte sich fester an ihn. Jetzt sind wir wirklich tot! Sie spürte, wie Morgwen den Kopf wandte, und sah ihrerseits auf. Nur ein paar Schritte entfernt saß Prinz Kaylen auf dem Rücken seines Jern und lächelte kalt auf sie hinab. In seiner Hand schwang die Peitsche nachlässig vor und zurück.
Weitere Kostenlose Bücher