Der Spiegel von Feuer und Eis
Ihre feurig glimmende Schnur brannte dünne Linien in das Eis, die sich sofort wieder schlossen. Hinter ihm hatten seine Kumpane in dem kleinen Hof einen lockeren Halbkreis gebildet. Cassim wagte einen raschen Blick in die Runde. Ihre Hoffnung, vielleicht doch noch einen Fluchtweg zu finden, zerstob.
Herabgestürzte Balken lagen kreuz und quer um sie herum. Es war ein Wunder, dass keiner sie erschlagen hatte. Ehe sie aus diesem Durcheinander von Trümmern heraus wären, hätten die Handlanger des Prinzen sie schon niedergeschossen. Und dann begriff sie auch, warum das Dach unter ihnen nachgegeben hatte. Es gehörte nicht zu einem Haus, sondern einem offenen Stall oder einem Unterstand. Nur an drei Seiten wurde es von Mauern getragen. Es war die vierte Seite gewesen, die ihrem gemeinsamen Gewicht nicht standgehalten hatte. Und es waren die Reste von Heu und Stroh gewesen, die – unter einer Eisschicht gefangen – ihnen das Leben gerettet hatten.
Mit sanft klappernden Hufen machte das Jern des Prinzen einen Schritt vorwärts. Cassim blickte hastig wieder zu ihm hin. Das kalte Lächeln lag noch immer auf seinem Gesicht.
»Ihr habt uns eine interessante Jagd geliefert. Auf den Einfall, über die Dächer zu fliehen, ist noch keiner gekommen. Aber jetzt ist es vorbei. – Raus da, ehe ich euch von meinen Männern holen lasse!«
Verzweifelt blickte sie auf Morgwen. Der drängte sie wortlos von sich herunter, stand auf und stellte auch sie auf die Füße. Sanft tanzten Schneeflocken von der Gletscherdecke herab. Ohne die Augen von Jarlaiths Prinzen zu nehmen, schob er Cassim hinter sich.
»Wie herzzerreißend. Glaubst du tatsächlich noch, den kleinen Feuerschopf beschützen zu können?« Kaylens Gelächter klang beißend. Dann war der Spott aus seiner Stimme verschwunden. »Hierher! Bewegt euch! Je länger ich warten muss, umso langsamer werdet ihr sterben!« Mit einem Zischen schnitt die Peitsche in einen Balken, keine Armlänge von ihnen entfernt. Flammen züngelten über das Eis, leckten nach dem Holz, verloschen jedoch gleich wieder. Cassim klammerte sich an Morgwens Hand. Seine Haut fühlte sich eisig an. Er rührte sich nicht.
»Muss ich euch helfen lassen?« Diesmal biss die glimmende Peitschenschnur in Morgwens Schulter. Mit einem leisen Knurren zuckte er zurück. Sein Blick streifte Cassim für kaum mehr als einen Lidschlag. Noch immer tat er nichts, um dem Prinzen zu gehorchen. Kalte Böen sangen zwischen den Hofmauern, ließen die Flocken dichter tanzen. Prinz Kaylens Jern schnaubte leise und scharrte mit den dreigespaltenen Hufen. Die Glöckchen an seinem Zaumzeug klingelten.
Ärger zuckte über das Gesicht seines Reiters. »Ihr habt es so gewollt! Ich werde euch bei lebendigem Leibe an die Mauern nageln.« Ein Wink an seine Handlanger. »Holt sie!«
Ihre Spieße vorgereckt, setzten die Männer sich in Bewegung. Frost glitzerte auf den eisernen Spitzen. Schneekaskaden ergossen sich von den Dächern und Mauerkronen, jagten als weiße Wirbel über den Hof. Das Jern des Prinzen wich blökend
zurück und schüttelte seine Geweihhörner. Auch die Tiere seiner Kumpane tänzelten unruhig. Krachend stürzte einer der Balken um. Cassim wurde gepackt, von Morgwen fortgezerrt und auf den Hof gestoßen. Wankend kam sie nur ein paar Schritte vor dem Prinzen zum Stehen, wandte sich zu Morgwen um. Kaylens Handlanger trieben ihn mit ihren Waffen vorwärts. Der Wind heulte durch den kleinen Hof, fuhr unter pelzbesetzte Mäntel und riss an Kleidern und Haaren. Eisblumen wuchsen auf den Mauern.
Morgwen wurde an Cassim vorbei und vor Prinz Kaylen auf die Knie gestoßen. Die Spitze eines Spießes saß direkt unter seinem Ohr. Ein dünner blauvioletter Faden versickerte in seinem Hemdkragen. Cassim konnte sein Gesicht nur halb von hinten sehen, doch er atmete schwer und schien die Augen wie vor Schmerz geschlossen zu haben.
Mit den Sporen zwang der Prinz sein Jern auf seine Beute zu. Das kalte Lächeln war wieder auf seinen Zügen, während er erst zu ihr und dann zu Morgwen sah.
»Was glaubt ihr, wird amüsanter? Sie dabei zuschauen lassen, wie wir ihn an die Wand spießen, oder sollen wir lieber mit ihr anfangen?« Er warf einen Blick über die Schulter zu seinen Kumpanen. Gelächter antwortete ihm. Weiße Flocken wirbelten dichter um sie herum. »Oder sollen wir es die beiden selbst entscheiden lassen? – Wie ist es, Eisblut, du zuerst, oder …«
Morgwen öffnete die Augen in jenem Moment, in dem Kaylen sich zu
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