Der Spiegel von Feuer und Eis
befanden. Ein glitzernd überzogener Kamin, in dem die Reste eines Feuers erfroren waren, befand sich zu ihrer Rechten. In einer Ecke ragte ein schwerer Kandelaber auf, die Reste von halb heruntergebrannten
Kerzen noch auf den Armen. Auf dem Boden lag ein bunter Teppich, eine Truhe stand am Fußende eines Bettes, auf dem … Cassim schluckte und wandte schnell den Blick ab.
Morgwen war an das Fenster getreten, durch das nur sanftes Halblicht fiel. Er presste die Hände gegen das Eis, versuchte auszumachen, ob sich unten auf der Straße etwas bewegte. Offenbar war es still. Langsam drehte er sich zu Cassim um. Es war nicht nötig, ihr zu sagen, was er vorhatte, sie wusste es auch so. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sie nickte stumm. Sein Blick huschte suchend durch den Raum, blieb an dem Kandelaber hängen. Einen Moment später krachte das schwere Gebilde gegen das Fenster. Das Eis brach erstaunlich leicht. Ein Regen von Splittern prasselte in die Gasse hinaus. Rufe erklangen. Hufgetrappel wurde laut. Morgwen ließ den Kandelaber einfach fallen, schlug die letzten Reste des Fensters aus dem Rahmen, stieg auf die Brüstung, beugte sich gefährlich weit vor, langte nach der Traufe und zog sich aufs Dach. Über Cassim knirschte es beängstigend, Schnee rieselte vor dem Fenster in die Tiefe. Sie beugte sich ebenfalls hinaus.
»Komm, Flammenkatze!« Von oben streckte Morgwen ihr die Hände entgegen. Sie kletterte auf die Brüstung, reckte sich nach der Traufe und seiner Hand und ließ sich von ihm auf das Dach helfen. Unten in der Gasse waren Stimmen zu hören, Eissplitter knirschten unter dreigespaltenen Hufen. Vorsichtig lugte Morgwen über den Rand, zog sich sofort wieder zurück. Zornige Rufe erklangen. Offenbar war Kaylen und seinen Kumpanen klar geworden, wohin sie geflohen waren. Morgwen legte beschwörend einen Finger auf die Lippen. Angestrengt lauschten sie in die Nacht, bevor er ihr ein Zeichen gab, das Dach hinaufzukriechen. Bemüht, kein Geräusch zu machen, gehorchte Cassim. Ihre Hände tauchten in die feine Schneeschicht ein, die sich hier oben gesammelt hatte. Vermutlich drangen die Flocken zuweilen durch Spalten in dem Gletschergewölbe über ihnen und fielen dann auf die Dächer der
Stadt. Unter dem Schnee war wie überall eine glitzernde Eiskruste verborgen. Die Schindeln knirschten, Balken knarrten. Hastig zog Cassim die Hand zurück, als würde dies ausreichen, ihr Gewicht zu mindern. Morgwen gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie weiterkriechen sollte, wies zum First hinauf. Auf dem Bauch rutschte sie vorwärts. Kälte schlich sich in ihre Kleider. Unten in der Gasse brüllte Prinz Kaylen Befehle. Spanne für Spanne schoben sie sich weiter. Cassim biss die Zähne zusammen. Irgendwo krachte Eis. Sie schaute erschrocken über die Schulter zu Morgwen hin. Mit zusammengepressten Lippen nickte er. Kaylens Handlanger suchten ebenfalls einen Weg auf die Dächer hinauf. Sie kroch weiter, zwang ihre bleiernen Glieder, sich schneller zu bewegen. Am Kaminstein lag sie für einige quälende Atemzüge still. Morgwen half ihr zuerst auf die Knie, dann auf die Füße. Das Dach war steil und glatt. Sie krallte die Finger in die Kälte der Kaminmauer.
»Komm weiter!« Behutsam löste Morgwen ihren Griff, fasste ihre Hand, zog sie geduckt den First entlang. Er war es, der immer wieder verhinderte, dass sie stürzte. Dann erreichten sie das Dachgesims, ließen sich ein Stück tiefer rutschen, bis sie mit dem Dach des Nachbarhauses auf gleicher Höhe waren. Morgwen kletterte hinüber, zog Cassim nach. Wieder bewegten sie sich langsam über gefährlich knarrende Schindeln, hinauf zum First, geduckt an ihm entlang bis zum nächsten Dach. Mühsam hinüber, wieder hinauf zum First, geduckt weiter. Cassim schrie erschrocken auf, als etwas zwei Schritt neben ihr in den Kaminstein schlug, glitt aus, rutschte über die Schindeln abwärts. Morgwen beendete ihren Fall. Ein zweiter Armbrustbolzen fuhr in das Dach, sehr viel näher dieses Mal. Mit einem Fluch zog er sie wieder auf die Füße. Cassim blickte hastig in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vier Giebel weiter entdeckten sie Prinz Kaylens Männer, die ihrem Herrn und seinen Kumpanen unten in den Gassen den Weg wiesen. Mit einem Zischen packte Morgwen ihre Hand fester und rannte
los. Sie hetzten über die Dächer, glitten aus, stürzten, schlitterten ein Stück in die Tiefe, bevor ihre Finger irgendwo Halt fanden, sprangen von Haus zu Haus,
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