Der Spiegel von Feuer und Eis
Mannes. Ein leises Knurren kam aus seiner Kehle. Er machte einen weiteren Schritt auf Kaylen zu. Das Jern stieg auf die Hinterläufe, schwang den Kopf herum, dass seine Zaumglöckchen schrill klingelten, und kämpfte gegen die Zügel. Hinter sich konnte der Prinz seine Begleiter hören. Ein zweiter Bolzen zischte an dem Mann vorbei, so nah, dass er seinen Arm streifte und eine Linie aus dunklem Blut hinterließ. Die hellen Augen wurden schmal, seine Oberlippe kräuselte sich in einem deutlicheren Knurren. Er trat wieder vor. Die Schneeflocken tanzten dichter. Kälte überzog die vereisten Mauern mit Kristallen aus Reif. Etwas stach eisig in Kaylens Brust und in sein Auge. Die Qual entlockte ihm ein Keuchen. Die Augen des Mannes weiteten sich kaum merklich. Er lachte leise.
»Lauf!« Die Peitsche hinterließ die nächste dunkle Spur. Die Flocken wirbelten dichter. Die Gestalt des Mannes schien vor Kaylens Blick zu verschwimmen. Etwas in dem Gelächter veränderte sich.
»Wertlose Eisbrut …« Mit Gewalt zwang er sein Jern vorwärts, die Flammenpeitsche zum nächsten Schlag erhoben.
»Nein!« Ein feuriger Schatten war plötzlich vor ihm, warf sich in das Schneetreiben hinein. Sein Reittier scheute. Sanft sanken die dicken Flocken zu Boden. Mit einem Mal schien sein Blick sich wieder zu klären. Langes Haar wie gesponnene Flammen, der schlanke Körper einer Frau, zwischen ihm und seiner Beute.
Er glaubte, einen Fluch zu hören, dann warf sich sein Wild abrupt herum und zerrte die Unbekannte in die Dunkelheit der nächsten Gasse.
Mit triumphierendem Gelächter legte Prinz Kaylen den Kopf in den Nacken, hieb seinem Jern erneut die Sporen in die Flanken und eröffnete die Jagd.
Morgwens Griff war wie Eis und Eisen, während er sie hinter sich herschleppte. Sie rutschte auf dem glatten, sanft glitzernden Boden aus, ein Ruck, und sie stand wieder, jedoch nur um unerbittlich weitergezogen zu werden. Die kalte Luft brannte in ihrer Brust. Wie lange sie schon in diesem Labyrinth aus engen Gassen um ihr Leben rannten, konnte sie nicht mehr sagen. Die nächste Ecke. Ein mit glitzernden Stalaktiten gespickter Eisbogen. Ducken, darunter hindurch. Hinter ihnen erklangen der Hufschlag der Jerne und das Johlen ihrer Reiter. Bisher war es ihnen immer wieder gelungen, ihre Jäger abzuschütteln – wenn auch jedes Mal nur für einen kurzen Moment. Unvermittelt ragte vor ihnen eine Wand aus Eis auf. Sackgasse! Nein, ein Riss zu ihrer Linken, den sie im schimmernden Halbdunkel nicht bemerkt hatte. Sie wurde zu ihm hin und durch ihn hindurchgeschubst. Ein Hund stand vor ihr, das Gebiss in einem lautlosen Knurren gefletscht. Morgwens Hand schloss sich über ihrem Mund, ehe sie schreien konnte. Das Tier rührte sich nicht. Eis überzog sein Fell. Ein leises Keuchen entrang sich ihrer Kehle. Der Hufschlag war ganz in der Nähe. Morgwen zog sie in den Schutz einer Ecke. Erst jetzt gab er ihren Mund frei. Den Rücken gegen die kalte Mauer gepresst, kauerten sie nebeneinander, lauschten angestrengt.
»Sucht weiter!« Die Stimme des Mannes, der wohl Prinz Kaylen war. »Hier sitzen sie in der Falle!«
Cassim versuchte, das Geräusch ihrer keuchenden Atemzüge zu dämpfen. Jenseits ihres Verstecks bewegten sich der Prinz und seine Kumpane. Das Licht ihrer Fackeln huschte über das
Eis, ein Schattenspiel aus Rot und Gold. Sie schloss die Augen, kämpfte gegen ihren rasenden Herzschlag und dankte Feuer und Erde dafür, dass ihr Knie durch Morgwens widerliche Behandlung und Maíres Pflege zumindest nicht mehr schmerzte oder sie gar behinderte.
Nachdem sie dem Wirt entlockt hatte, wo Prinz Kaylen diese grauenvollen Jagden gewöhnlich veranstaltete, hatte sie eiligst Mantel und Stiefel geholt. Alles Flehen und Drohen vonseiten des verstörten Mannes und Jornas’ konnte ihren Entschluss nicht ändern: Sie würde nicht zulassen, dass die furchtbare Vorhersage, sie würde Morgwen nie wiedersehen, wahr wurde.
Leer und verlassen lagen die Straßen da, während sie in den erfrorenen Teil der Stadt gerannt war. Noch nicht einmal ein Hund oder eine Katze auf Mäusefang war ihr begegnet. Schiere Ewigkeiten war sie durch die dunklen Gassen mit ihren sanft schimmernden Eismauern geirrt, doch schließlich hatte das grauenvolle Knallen einer Peitsche ihr den Weg gewiesen. Das und die Kälte, die mit jedem Schritt, den sie näher kam, zuzunehmen schien. Dann war sie um eine Ecke gebogen und hatte sie gesehen. Eine Schar Reiter, die auf den Rücken
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