Der Spiegel von Feuer und Eis
Zielstrebig näherte die Unbekannte sich einem dieser Läden und pochte in einer bestimmten Folge dagegen, die sie nach kurzem Warten wiederholte. Keinen Augenblick später flutete ein Schwall Helligkeit in den Durchgang, als ein paar Schritte weiter eine Tür geöffnet wurde. Ein untersetzter Mann blickte ihnen entgegen, nickte ihnen zu, während sie rasch an ihm vorbeischlüpften, und verriegelte die Tür sofort wieder hinter ihnen. In einer Mischung aus Staunen und freundlicher Neugier blickte er auf Cassim und Morgwen, ehe er sich der Frau zuwandte.
»Ihr habt es tatsächlich geschafft. – Und auch noch beide.« Er schüttelte den Kopf.
Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Unbekannten. »Ja, Vater Doran. – Aber auch wenn wir Kaylen und seine Freunde für den Moment abgeschüttelt haben, wird er nach ihnen suchen.«
»Und nach Euch, Herrin!«
Für die Dauer eines Atemzugs huschte Schmerz über ihre Züge. Offenbar hatte der Mann es auch bemerkt, denn sein Blick wurde seltsam traurig. Die Hand der Frau strich über seinen Arm und er nickte entschieden. »Auch wenn wir kaum gewagt hatten, darauf zu hoffen, dass Ihr es schafft: Die anderen warten. – Hier entlang!« Mit schnellen Schritten führte er sie durch sein Haus, öffnete ihnen die hintere Tür und ließ sie in eine weitere Gasse treten. »Mögen die Flammen hoch für euch lodern«, verabschiedete er sich von ihnen und verriegelte die Tür wieder.
Erneut winkte die Frau ihnen, ihr durch die Straßen Jarlaiths zu folgen. Noch drei Mal wiederholte sich dieses verstohlene Vorgehen. Ein rhythmisches Pochen an einem Fensterladen, auf das sich eine Tür öffnete. Jemand hieß sie in ungläubigem Erstaunen willkommen, das zu freudiger Überraschung wurde;
ein kurzer Wortwechsel, dann wurden sie durch eine Hintertür hinausgelassen oder durch einen kleinen Hof zur nächsten dunklen Gasse geführt.
Als sich zum vierten Mal die Tür vor ihnen öffnete, hoffte Cassim, dass es bald vorbei sein möge. Sie war müde und erschöpft. Ihre Beine wollten sie kaum noch tragen. Morgwen hatte den Arm um sie gelegt, um sie zu stützen, sonst wäre sie schon jetzt zu keinem Schritt mehr fähig gewesen.
Dieses Mal stand ein hochgewachsener Mann im Türrahmen. Als er sie sah, holte er vor Überraschung scharf Atem, trat dann aber hastig beiseite und ließ sie vorbei. Ein wachsamer Blick die Gasse entlang, und er schloss die Tür sorgfältig, legte einen schweren Balken vor. Er bedachte die Unbekannte mit einem beinah liebevollen Kopfschütteln, dann wies er sie vorwärts in die kleine Stube seines Hauses. Auch hier waren Decke, Wände und Fußboden mit Eis überzogen, doch im Kamin brannte ein helles Feuer, das angenehme Wärme verbreitete. Mitten im Raum stand eine zweite Frau, die ihnen angespannt entgegensah. Als sie Morgwen und Cassim zu Gesicht bekam, schlug sie erschrocken die Hände zusammen. Ihr dunkles Haar, das so kennzeichnend für jemanden aus dem Südlichen Volk war, umrahmte ein schmales Gesicht. Ihre sanften blaugrauen Augen blitzten und richteten sich jetzt auf den Mann. »Wir brauchen heißes Wasser! Die beiden sehen ja zum Erbarmen aus. – Man sollte diesem Mistkerl seine eigene Medizin zu kosten geben.« Sie verstummte schuldbewusst und blickte zu ihrer Retterin hin. »Herrin, es tut mir leid …«
Die schüttelte den Kopf. »Ist alles bereit?«
»Ja, natürlich. Auch wenn wir nicht darauf gehofft hatten …« Sie winkte sie in eine Ecke des Raumes, schlug einen schweren Teppich zurück und hob eine Falltür an, die in die Tiefe führte. Zögernd blickte sie die Frau an. »Seid Ihr wirklich sicher, dass Ihr sie hier verstecken wollt, wo Ihr auch …«
»Kaylen hat diesen Ort bisher nicht gefunden; er wird es
auch jetzt nicht. Sei unbesorgt, Nesha.« Sie nickte Cassim und Morgwen zu. »Kommt! Nur noch diese Stufen, dann könnt ihr ausruhen. Hier seid ihr sicher.«
Es war nicht mehr als ein halbes Dutzend hölzerner Tritte, die in einen kleinen Raum mit niederer Decke führten, in dem ebenfalls heimelige Wärme herrschte. Auch hier lagen dicke Teppiche über dem Eis. Vor einer schmalen Feuerstelle, neben der ein Teekessel sacht vor sich hin sang, stand ein kleiner Tisch mit zwei Hockern. Eine Truhe und ein grob gezimmertes Bett mit weichen Fellen und Decken stellten den Rest der spärlichen Einrichtung. Ein zweites Lager war an der Schmalseite des Raumes hergerichtet worden. Offenbar hatte man damit gerechnet, die Fremde würde mit nur einem von
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