Der Spiegel von Feuer und Eis
Die Hand gegen die Rippen gepresst, stand er leicht wankend da. Cassim wollte ihn stützen, wurde aber von ihm fortgeschoben. Als er sie ansah, stand in seinen Augen Ärger, ohne dass sie verstand, womit sie sich seinen Groll zugezogen hatte.
»Seid Ihr in Ordnung, Freund?«, prüfend musterte Ernan Morgwen, dann trat er einen Schritt zurück. »Meine Männer müssen meine Befehle missverstanden haben. Ich kann mich nur für ihr Verhalten entschuldigen.«
Morgwens schmaler Blick glitt von Ernan zu seinem Stellvertreter und zurück. »Ja, natürlich.« Obwohl seine Stimme gepresst klang, glaubte Cassim dennoch, einen seltsamen Unterton darin zu hören. Die Hand immer noch auf der malträtierten Seite, straffte er sich langsam. »Können wir aufbrechen?«
Verblüfft sah der Hauptmann ihn an. »Seid Ihr denn in der Lage, zu reiten?«
»Reiten?« Morgwens Augen verengten sich noch mehr. »Wolltest du nicht Hundeschlitten beschaffen?«
»Ich musste mich mit Jernen begnügen.« Ernan hob die Schultern. »Wenn Ihr nicht …«
»Gleichgültig ob Hundeschlitten oder Jerne. – Wir brechen auf!«
»Wie Ihr wollt.« Der Hauptmann trat beiseite und gab den Weg an Land frei.
Noch immer sichtlich steif bückte Morgwen sich nach seinem Bündel, das zu Boden gefallen war, nickte Ernan zu voranzugehen. Auch Cassim hob ihre Habe auf, dann folgte sie ihm und dem Hauptmann von Bord der Adanahn. Ernans Stellvertreter machte ihnen mit grimmiger Miene Platz. Hinter sich konnte sie die Schritte von Jornas und einigen anderen Männern auf dem Holz vibrieren hören, die auf Ernans Befehl mit ihnen kommen würden.
Am Ufer des Laith wartete wohl ein Dutzend Jerne auf sie, die ihnen mit sanften Augen entgegensahen. Ihr fahlbraunes Fell war mit weißen Flocken bestäubt und an ihren Nüstern glitzerte Reif. Jedes war gesattelt und gezäumt. Zwei Krieger hielten die Zügel in den Händen.
Cassim zögerte, als Ernan neben dem ersten der Tiere anhielt und sie ansah.
»Ich kann nicht reiten.«
Lächelnd nickte er. »Das habe ich mir gedacht. Deshalb habe ich für Euch ein besonders sanftes Jern ausgesucht, das einen weichen Schritt hat. – Ihr werdet sehen: Es ist nicht schwer, sich auf seinem Rücken zu halten.«
Auf seinen Wink hin trat sie näher heran. Die beeindruckenden Geweihhörner des Tieres senkten sich, als es ihr die Nüstern entgegenstreckte, um sie zu beschnuppern.
»Was ist mit Euch, mein Freund? Könnt Ihr reiten?« Ernan
hatte sich zu Morgwen umgedreht, der in einiger Entfernung zu den Jernen stehen geblieben war.
Der verzog den Mund. »Reiten kann ich. – Nur sie« – er nickte zu den Tieren hin – »mögen mich gewöhnlich nicht besonders.« Wie um seine Worte zu bestätigen, stieß das Jern, das ihm am nächsten war, ein Blöken aus und riss am Halfter.
Der Hauptmann neigte den Kopf. »Heißt das, wir haben ein Problem?«
Die Antwort war ein Kopfschütteln. Morgwen ließ seinen Beutel fallen und ging auf das Jern zu. Langsam, eine Hand vorgestreckt, die Finger locker geöffnet, bewegte er sich durch den Schnee. Das Tier schnaubte, rollte die Augen und versuchte zurückzuweichen. Schweigend nahm Morgwen dem Krieger die Zügel aus der Hand. Dann blieb er ruhig stehen, die Hand noch immer ausgestreckt. Abermals ließ das Tier ein Blöken hören, schwang unbändig seine Geweihhörner herum, als suche es nach einer Fluchtmöglichkeit. Immer wieder leckte es sich mit seiner rosigen Zunge über die Schnauze. Morgwen wartete, schien das angespannte Murmeln der Männer nicht zu bemerken. Dann machte er jäh einen Schritt vorwärts, packte die Zügel direkt unter dem Kiefer des Jern und legte ihm gleichzeitig die Hand auf die Nüstern. Das Tier stieß einen gellenden Schrei aus. Plötzlich flogen seine Atemzüge, und seine hellen Flanken bebten, als sei es stundenlang um sein Leben gerannt. Es zitterte am ganzen Körper, versuchte, von dem Mann fortzukommen, der vor ihm stand. Morgwen folgte seinen Bewegungen, wich den schlagenden Geweihhörnern aus. Cassim konnte sehen, wie er zusammenzuckte, das Gesicht schmerzhaft verzog. Schnee stob unter den dreigespaltenen Hufen auf. Dann – von einem Lidschlag auf den nächsten – stand das Jern still. Noch immer blähten seine Nüstern sich hektisch unter Morgwens Hand und auch sein Zittern hatte nicht nachgelassen. Es hatte den Kopf so hoch gehoben,
wie es nur konnte, seine Augen rollten, aus dem weit aufgerissenen Maul schnellte seine Zunge vor, kämpfte mit dem Gebiss.
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