Der Spiegel von Feuer und Eis
Mitte. Wieder wurden Morgwens Augen schmal. Es zuckte kurz um seinen Mund. Ein weiterer Befehl, dann ritten sie in nördliche Richtung, während der Schneefall immer dichter wurde und die Welt um sie her allmählich in seinem Grau versank.
Sie mochten dem Laith vor vielleicht zwei Stunden den Rücken gekehrt haben, als aus dem stetigen Schneefall ein undurchdringliches Schneetreiben geworden war, das sich allmählich zu einem Eissturm auswuchs. Ernan und seine Männer waren kaum mehr als Schatten in dem weißen Zwielicht. Ihre Rufe klangen über dem seltsam dunklen Heulen des beißenden Windes nur gedämpft. Eis und Schnee schlugen Cassim ins Gesicht, ließen ihren Atem gefrieren, kaum dass er über ihre Lippen gekommen war. Kalte Böen zerrten an ihrer Kapuze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, versuchten, sich in die Wärme ihres Umhangs zu zwingen. Frost hatte jedes Gefühl aus ihren Gliedern vertrieben. Reif hing in ihren Wimpern. Zitternd kauerte sie über dem Hals ihres Jern.
Schon vor einiger Zeit hatte Morgwen die Zügel des Tieres ergriffen, ohne auf sein angstvolles Blöken und Scheuen zu
achten, und hielt sie dicht an seiner Seite. Ein gelegentliches Zupfen an ihrem Mantel verriet Cassim, dass Jornas sich immer noch an ihm festklammerte, um sie und Morgwen nicht zu verlieren. Den Kopf gesenkt, den Umhang so eng wie möglich um sich gezogen, überließ sie ihm die Führung und hoffte nur noch darauf, dass sie irgendwo einen Unterschlupf fanden, ehe der Eissturm endgültig mit seiner ganzen Wucht über sie hereinbrach.
Sie bemerkte erst, dass ihr Jern stehengeblieben war, als sie aus seinem Sattel gezogen wurde. Verwirrt blinzelte sie, versuchte, mehr zu erkennen als weiße Schlieren, bis sie begriff, dass Morgwen vor ihr stand.
»Wir kommen mit den Jernen nicht mehr weiter!« Er musste gegen die Gewalt des Sturms anbrüllen, um sich ihr verständlich zu machen. Cassim brachte nicht mehr zustande als ein Nicken, obwohl sie nicht wirklich begriff, was er von ihr wollte. Jeder Muskel in ihrem Körper schien erstarrt. Neben ihnen stand Jornas, ein dunkler Schemen inmitten des eisigen Wirbelns, der seinen Beutel an sich presste und gleichzeitig versuchte, seinen Mantel zusammenzuhalten. Weder Ernan noch einer seiner Männer waren zu sehen. Erschrocken blickte sie sich um.
»Wo …?«
Das Toben des Windes trug das Wort davon.
»Wir haben sie verloren.« Morgwen schien ihre Frage erraten zu haben. »Komm weiter! Wenn wir hierbleiben, erfrieren wir!« Er drehte sie in dem Weiß um und schob sie vorwärts; Schritt für Schritt für Schritt. Eine Zeitlang war sie sich noch der Jerne bewusst, die ihnen folgten -, ob freiwillig oder am Zügel mitgeführt, wusste sie nicht – doch schon bald gab es um sie herum nur noch alles verschlingendes Eis und wütendes Heulen, das ihre Welt auf eine Armlänge aus geronnener Kälte reduzierte.
Cassim verfluchte Morgwen innerlich, als er sie trotz der Kälte zwang, mit ihm zu reden. Hätte er sie nicht jedes Mal grausam gekniffen, wenn sie mehr als nur ein paar Atemzüge schwieg, hätte sie sich schon lange in seine Arme geschmiegt und sich der Müdigkeit überlassen.
Sie erinnerte sich daran, dass sie sich irgendwann im Schnee sitzend wiedergefunden hatte, ohne wirklich zu wissen, ob und warum ihre Beine ihr den Dienst versagt hatten … Die nächste Erinnerung, die sich ihrem müden Verstand eingeprägt hatte, war Morgwen, der sie durch das weiße Wüten trug – und der Schmerz, weil er irgendwie eine Stelle gefunden hatte, die er trotz Mantel und Kleidung erreichen konnte.
Sie hatte mehr vor Schreck als Schmerz geschrien, doch als er sie das nächste Mal gezwickt hatte, war ihr allmählich klar geworden, was er ihr ins Ohr brüllte. »Rede mit mir!« Wieder und wieder. »Rede mit mir!« und »Nicht einschlafen!« und immer wieder »Es ist bald vorbei!« und »Noch suchen sie uns!«
Sie wusste nicht, was sie ihm erzählte. Selbst wenn sie immer wieder dasselbe gesagt hätte, wäre es ihr gleichgültig gewesen. Bei jedem seiner Schritte wippte ihr Kopf auf ihre Brust hinunter. Ein Schütteln, ein Ruck, weil er sie höher auf seine Arme nahm, wieder Schmerz. Wahrscheinlich war sie an der Stelle schon grün und blau. Sie überlegte, ob sie nach ihm schlagen sollte – und ließ den Gedanken davondriften, ehe sie ihn beendet hatte. Das Heulen des Sturmes klang nur noch wie aus weiter Ferne zu ihr, sank zu einem Wispern herab. Irgendwann war es still. Cassim
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