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Der Spieler (German Edition)

Der Spieler (German Edition)

Titel: Der Spieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Pacigalupi
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schlammigen Straßen ihres Dorfes nur folgen konnten, indem sie auf die von Wänden aus Kuhdung widerhallenden Geräusche lauschten und dem Scharren ihrer Blindenstöcke, die durch den Staub zu ihren Füßen strichen.
    Prüfend schaute Lidia aus ihren gestohlenen schwarzen Augen in die jenseits des Fensters liegende Nacht hinaus. Immer mehr Luftgleiter entluden Gäste auf den Landeplätzen, spannten dann wieder ihre Flügel auf und ließen sich von den Bergwinden davontragen.
    Anschließend hatte es weitere Behandlungen gegeben: pigmentreduzierende Medikamente, die ihrer Haut die Farbe entzogen, bis sie beide eine vornehme Kabuki-Blässe aufwiesen und ätherische Schatten ihres früheren, von der Gebirgssonne gebräunten Selbsts geworden waren. Und dann begannen die chirurgischen Eingriffe. Lidia erinnerte sich daran, wie sie nach jeder der dicht aufeinanderfolgenden Operationen zu sich gekommen war. Verkrüppelt und trotz der dicken Kanülen voller Zellreparaturstoffe und Nährlösungen, die der Arzt durch ihren zierlichen Körper spülte, wochenlang nicht in der Lage, sich zu rühren. Der Mediziner hatte nach einem der Eingriffe ihre Hand gehalten, ihr den Schweiß aus dem Gesicht gewischt und geflüstert: »Armes Mädchen. Armes Mädchen.« Dann war Belari vorbeigekommen, hatte lächelnd den Fortschritt bewundert und gesagt, dass Lidia und Nia schon bald Stars sein würden.
    Heftige Windböen rissen den Schnee von den Pinien und wirbelten ihn in großen Orkanwolken dem eintreffenden Adel entgegen. Die Gäste eilten durch das heftige Schneetreiben, während die blauen Scheinwerfer von Bursons Skipatrouillen den Wald zerteilten. Seufzend wandte Lidia sich vom Fenster ab, um schließlich doch noch Nias besorgter Bitte, sie möge sich endlich umziehen, Folge zu leisten.
     
    Wenn Belari das Lehen verließ, unternahmen Stephen und Lidia gemeinsam Picknickausflüge, um dem riesigen grauen Schloss zu entfliehen und vorsichtig über Bergwiesen zu spazieren. Dann half Stephen Lidia stets dabei, Felder voller Gänseblümchen, Akeleien und Lupinen zu überqueren, bis sie über steil abfallende Granitklippen auf die weit unter ihnen liegende Stadt hinabschauen konnten. Um sie herum ragten die mit Gletschern bedeckten Gipfel auf, die das Tal säumten, als hätten sich dort Riesen niedergelassen, um Rat zu halten. Mit dem auch im Sommer nie ganz abschmelzenden Schnee auf den Steilwänden schienen sie lange Bärte zu tragen. Am Rand des Abgrunds hatte ihr Stephen beim Picknick Geschichten aus der Zeit erzählt, als es noch keine Lehen gegeben und bevor Revitia Stars Unsterblichkeit verliehen hatte.
    Das Land sei demokratisch gewesen, hatte er gesagt. Die Menschen hätten damals ihre Lehnsherren selbst gewählt. Und sie hätten in jedes andere Lehen reisen können, wenn sie denn wollten. Jeder, so hatte er Lidia erklärt, nicht nur die Berühmtheiten. Sie wusste, dass es an der Küste Orte gab, in denen das immer noch möglich war. Sie hatte davon gehört. Aber es erschien ihr kaum vorstellbar. Sie war ein Kind der Lehen.
    »Aber es ist wahr«, hatte Stephen gesagt. »Entlang der Küste wählen die Menschen ihre Oberhäupter selbst. Nur hier in den Bergen ist das anders.« Er hatte sie angelächelt. Um seine sanften braunen Augen hatten sich unzählige kleine Fältchen gebildet, weil er sich über den skeptischen Ausdruck in Lidias Gesicht amüsiert hatte.
    Lidia hatte gelacht. »Aber wer würde dann für alles bezahlen? Ohne Belari gäbe es doch niemanden, der für die Straßenreparaturen aufkommt und Schulen errichtet!« Lidia hatte eine Aster gepflückt und sie zwischen den Fingern gedreht, bis die lilafarbenen Speichen um die gelbe Blütenmitte herum verschwommen waren.
    »Das Volk kümmert sich darum.«
    Lidia hatte erneut gelacht. »Das können sie sich doch gar nicht leisten. Sie haben ja kaum genug, um sich selbst zu ernähren. Und woher wissen sie, was zu tun ist? Ohne Belari würden sie doch gar nicht erfahren, was repariert oder verbessert werden muss.« Als Lidia die Blume über die Klippe hatte werfen wollen, war diese vom Wind erfasst und zurückgetragen worden, bis sie schließlich wieder neben ihr gelandet war.
    Stephen hatte die Blume aufgehoben und sie mühelos über die Felskante geschleudert. »Aber es stimmt. Sie müssen gar nicht reich sein, wenn sie nur zusammenarbeiten. Meinst du, Belari weiß alles? Sie beschäftigt Berater. Das kann das Volk genau so gut wie sie.«
    Lidia hatte den Kopf geschüttelt.

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