Der Spieler (German Edition)
Augen aufschlug, konnte er gerade noch einen Blick auf sie erhaschen, wie sie sich hinter den Wollvorhang zurückzog. Sobald sie den Stoff fallen ließ, versank der Raum wieder im Dämmerlicht; nur das Klimpern ihrer Hochzeitsarmreifen war noch zu hören. Auch die anderen Geräusche des Morgens bemerkte er jetzt, da er vollständig wach war: das kraftvolle Krähen der Hähne, die sich überall im Dorf gegenseitig herausforderten, Kinderschreie unter den hohen Fensterschlitzen in den Wänden der Hacis. Die von seiner Mutter aufgewirbelten Staubkörner fingen sich im Sonnenschein, der von draußen hereinfiel.
In den Pascho-Türmen wachte er immer auf, sobald es dämmerte. Seine Zelle lag zur Ostseite hin und wurde bereits früh vom kahlen Licht durchflutet. Sobald er wach war, trat er ans Fenster und starrte in den hellen Sonnenaufgang, badete in dem Licht, dass sich auf den ruhig daliegenden Oberflächen der tausend Seen brach. Die grellen, kalten Strahlen funkelten wie Katzensilbertupfen und verwandelten das ganze Land, soweit das Auge reichte, in eine flüssige Ebene, blendeten ihn und verschleierten die grünen Brücken von Keli.
Kurz darauf würde sein Meister an die Tür treten, ein sanfter Keli-Mann, dessen Tätowierungen sich in die Rundungen seines dank der Fische in Kelis Seen gut genährten Körpers schmiegten. »Los, Wüstenpascho«, würde er ihn lachend rufen. »Wir wollen sehen, welche Zerstörung Gawars Enkel heute für uns bereithält. Wie viele Bücher wirst du heute verschlingen?« Für ihn waren alle Menschen gleich. Ob Jai oder Keli spielte keine Rolle. Einzig auf das Lernen kam es ihm an.
»Raphel?«, flüsterte seine Mutter. »Pascho?« Erneut schnalzte sie zaghaft, als wollte sie von hinter dem Vorhang die Stille seines Raumes ausloten.
Langsam richtete Raphel sich auf. »Du musst mich nicht Pascho nennen, Mutter. Ich bin immer noch dein Sohn.«
»Mag sein«, drang ihre gedämpfte Stimme zu ihm. »Aber deine Haut ist mit Wissen bedeckt, und jeder nennt mich Bia’Pascho.«
»Aber ich bin immer noch derselbe.«
Darauf gab seine Mutter keine Antwort.
Raphel warf die Decken beiseite und kratzte sich die ausgetrocknete Haut. Sie pellte sich bereits. Ihn fröstelte. Die Nacht war kalt gewesen. Er hatte vergessen, wie kalt die Wüstennächte waren – selbst in der Trockenzeit konnte es furchtbar kalt werden. In Keli war es auch nachts heiß, selbst wenn die Sonne unterging. Schwülwarme Luft, die in jeden Winkel drang. Manchmal, wenn er im Bett lag, hatte er das Gefühl, er könne diese Luft mit den Fäusten ausquetschen, bis ihm warmes Wasser die Arme hinunterrann. Wehmütig dachte er an die weiche, von flüssiger Hitze verwöhnte Haut zurück und kratzte sich erneut. Hier im Tal schien die Luft ihm feindlich gesonnen, genau wie sein Großvater gestern.
Raphel legte seine Gewänder an, verbarg die messerscharfe, spitzwinklige Schrift, die ihn als Vollendeten auswies. Eine alte Schrift, einfacher als die der Jai, direkter und weniger darauf bedacht, nicht angriffslustig zu erscheinen – eine ungeduldige Sprache für blitzschnelle, einer Eingebung sogleich folgende Menschen. Dann band er die Schlaufen seiner Robe zu, um die Gedächtnisstützen auf seinem Körper zu bedecken: Die Einhundert Bücher, Die Rituale des Anfangs und des Endes, Die Wissenschaftlichen Grundprinzipien, Die Säuberungs-Rituale, Grundlagen der Körperfunktionen, Bio-Logik, Die Tradition des Quaran, Chemisches Grundwissen, Beobachtung von Pflanzen und Tieren, Matica, physikalische Matica, Grundprinzipien der Baukunst, Wissenschaft von der Erde; die grundlegenden Techniken: Papier, Tinte, Stahl, Plastik, Seuchen, Fließband, Geschosse, Dünger, Seife ... zehntausend rezitierbare Strophen, durch Rhythmus und Symbole, die ihnen Dauerhaftigkeit verliehen, miteinander verbunden. In Verse eingeschlossenes Wissen aus einer Zeit, in der Bücher schwer herzustellen und noch schwieriger zu bewahren waren; aus einer Zeit, als Paschos wie Blumensamen von einem weit entfernten Dorf zum nächsten wanderten, sich mit zur Begrüßung ausgestreckter Handfläche durch das Offene Auge Bewegungsfreiheit erbaten und ihr Wissen auf diese Weise verbreiteten, soweit ihr ausgreifender Verstand sie trug, immer darauf hoffend, irgendwo Wurzeln schlagen und Schulen gründen zu können, von denen aus sie neue Paschos noch weiter ins Land schicken konnten.
»Raphel?«
Die Stimme seiner Mutter schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Eilig zog er sich
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