Der Spinnenmann
wir im Programm weitermachen konnten.
Ich zog meinen Notizblock hervor.
»Warum braucht das Land ein eigenes gerichtsmedizinisches Institut?«, fragte ich.
Harbitz leierte seinen üblichen Spruch herunter. »Die pathologische Anatomie ist bekanntlich ein Studienfach von so wesentlicher Bedeutung, dass dem Lehrstuhlinhaber die außerordentlich belastende Mehrarbeit, die die Gerichtsmedizin mit sich bringt, erspart bleiben muss.«
»Aber Sie schaffen es doch, beides zu kombinieren.«
Er lächelte. »Ich bin ein alter Herr, wissen Sie. Ich schwimme sozusagen auf meiner Routine …« Er packte mich ungeduldig am Arm. »Aber jetzt muss ich zurück zu den Brandopfern. Wir können unser Gespräch im Operationssaal fortsetzen.«
Er sah, dass ich zögerte. »Ich habe das so verstanden, dass Sie über die kritikwürdigen Arbeitsverhältnisse während der Identifizierung berichten wollen?«
Ich nickte.
»Na gut, dann kommen Sie mit.«
Ich konnte nur mühsam mit ihm Schritt halten, als er die Treppe in den ersten Stock hochlief. Ich bereute mein Kommen zutiefst. Die Sache wurde auch nicht besser, als Harbitz die Tür zu einem der Säle öffnete. Ein Übelkeit erregender Geruch nach verbranntem Fleisch, vermischt mit Formalin, schlug mir entgegen. Ich fuhr zurück.
Harbitz hielt die Tür offen.
»Bitte, treten Sie ein. Es ist eng hier, wie Sie sehen.«
Ich fasste mir ein Herz und ging hinein. Ich zählte sechs Leichen, zwei auf dem großen Operationstisch und vier jeweils auf einer Bahre, alle bedeckt mit einem weißen Laken, während zu ihren Füßen ein Karton stand.
»Wo ist der Rest?«, fragte ich.
»Wir haben drei im Saal nebenan. Drei Kinder - zwei Mädchen und ein kleiner Junge.«
»Wie läuft die Identifizierungsarbeit?«
»Wir wissen noch nicht, wo wir anfangen sollen. Die Polizei hat uns alle Vermisstenmeldungen der letzten Jahre übergeben, und nach einer im Rundfunk ausgestrahlten Aufforderung sind uns die Zahnarztunterlagen dieser Vermissten ausgehändigt worden. Das hat nichts gebracht. Da stehen wir also - mit den Überresten von neun Personen, deren Verschwinden niemandem aufgefallen ist.«
»Seltsam.«
Harbitz nickte zerstreut. Er ging zu einem Leichnam und schaute in den Karton am Fußende.
»Hier sind persönliche Gegenstände, die die Flammen teilweise verschont haben. Uhren, Schmuck, solche Dinge.«
Er ging weiter zum nächsten Tisch. Ich wollte eigentlich bei der Tür stehen bleiben, aber nun wurde meine Neugier zu stark. Mit zögernden Schritten näherte ich mich dem Tisch, den Harbitz verlassen hatte. Ich konnte Konturen des Leichnams unter dem Laken deutlich sehen, konnte mir jedoch seine Haltung nicht vorstellen.
Ich warf einen Blick auf die Gegenstände im Karton.
»Zumindest müssten wir zwei Räume hier in der pathologischen Anatomie bekommen«, sagte Harbitz. »Was es derzeit hier an Gerichtsmedizin gibt, existiert aus purer Gastfreundschaft. Ich persönlich finde, auf diesem Grundstück sollte ein neues Gebäude errichtet werden. Das könnte dann eine Reihe von wissenschaftlichen Instituten enthalten, auch Gerichtsmedizin … stimmt etwas nicht?«
Ich hatte im Karton eine goldene Kette gefunden. Das meiste davon war geschmolzen, aber etwas war noch erhalten: drei aneinander gekettete Herzen.
Harbitz kam zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Stimmt etwas nicht, Erfjord«, fragte er noch einmal.
Ich hörte ihn zwar deutlich, zugleich aber schien er unendlich weit entfernt.
»Sagen Sie«, erwiderte ich und zeigte auf den Leichnam vor mir. »Ist das da eine Frau?«
»Nein, es sollte jedenfalls keine sein.«
Harbitz wurde von fachlicher Neugier erfasst. Ohne an meine mögliche Reaktion zu denken, nahm er das Laken weg. Beim Anblick des kohlschwarzen Leichnams wurde mir schwindlig. Der Tote lag halb auf der Seite und hatte ein Bein angezogen. Sein Kopf war nach hinten gebeugt wie auch sein Rücken, aber das Entsetzlichste war die Haltung der Arme. Sie waren mit abgewinkelten Ellbogen und geballten Fäusten erhoben. Es sah fast aus, als werde der verbrannte Kadaver im nächsten Moment vom Tisch springen und auf uns einschlagen.
Harbitz hatte meine Gedanken offenbar erraten.
»Wir nennen das die >Boxerstellung<«, dozierte er. »Die kommt bei Brandopfern häufig vor. Es liegt an der Wirkung der Hitze auf die Muskulatur.«
»Und das ist also ein Mann?«
»Ja, das steht absolut fest. Er lag ganz unten im Haufen und ist deshalb das am wenigsten verbrannte von den
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