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Der Spion, der aus der Kälte kam

Titel: Der Spion, der aus der Kälte kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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historischen Gesetze, deren Gültigkeit von der Partei bewiesen worden waren. Nein, Alec hatte nicht recht: es gab eine Wahrheit, die außerhalb der Menschen existierte. Das wurde durch die Geschichte bewiesen, und das Einzelwesen mußte sich ihr beugen oder notfalls zermalmt werden. Die Partei war die Vorhut der Geschichte, die Lanze im Kampf um den Frieden … Liz betete die Liturgie etwas unsicher herunter. Sie wünschte, es wären mehr Menschen gekommen. Sieben waren zuwenig. Sie sahen so verdrossen aus. Verdrossen und hungrig.
    Als das Treffen beendet war, wartete Liz auf Frau Ebert, die unverkaufte Literatur von dem schweren Tisch bei der Tür wieder einsammelte, ihr Anwesenheitsbuch ausfüllte und den Mantel anzog, denn es war kalt an diesem Abend. Der Redner war schon vor der allgemeinen Diskussion - ziemlich unhöflich, dachte Liz - gegangen. Frau Ebert stand an der Tür und hatte ihre Hand auf dem Lichtschalter, als ein Mann aus der Dunkelheit auftauchte und im Eingang erschien. Für einen Augenblick glaubte Liz, es sei Ashe. Er war groß und blond und trug einen dieser Regenmäntel mit Lederknöpfen.
    »Genossin Ebert?« erkundigte er sich.
    »Ja?«
    »Ich suche eine englische Genossin, Elisabeth Gold. Sie wohnt bei Ihnen?«
    »Ich bin Elisabeth Gold«, warf Liz ein, und der Mann kam in den Saal und schloß die Tür hinter sich, so dass ihm das Licht voll ins Gesicht schien.
    »Mein Name ist Holten, ich komme vom Kreis.« Er zeigte Frau Ebert, die noch an der Tür stand, ein Papier, und sie nickte und blickte ein wenig ängstlich auf Liz.
    »Ich bin vom Präsidium ersucht worden, der Genossin Gold eine Nachricht zu überbringen«, sagte er. »Es betrifft eine Abänderung Ihres Programmes. Sie werden eingeladen, an einer Sondersitzung teilzunehmen.«
    »Oh«, sagte Liz etwas benommen. Es erschien ihr seltsam, dass das Präsidium von ihr auch nur gehört haben sollte.
    »Es ist eine Geste«, sagte Holten. »Nur um den guten Willen zu zeigen.«
    »Aber ich - aber Frau Ebert …«, begann Liz hilflos.
    »Ich bin sicher, dass die Genossin Ebert Sie unter diesen Umständen entschuldigen wird.«
    »Selbstverständlich«, sagte Frau Ebert schnell.
    »Wo wird die Sitzung stattfinden?«
    »Sie müssen noch diese Nacht reisen«, erwiderte Holten. »Wir haben einen langen Weg vor uns. Fast bis nach Görlitz.«
    »Görlitz … Wo ist das?«
    »Im Osten«, sagte Frau Ebert schnell. »An der polnischen Grenze.«
    »Wir werden Sie jetzt nach Hause bringen. Sie können Ihre Sachen holen, und wir fahren dann sofort weiter.«
    »Heute nacht? Jetzt?«
    »Ja.«
    Holten schien nicht der Meinung zu sein, dass Liz viele Möglichkeiten zu einer Entscheidung hatte.
    Ein großer schwarzer Wagen wartete auf sie. Hinter dem Steuer saß ein Fahrer, und auf dem Kühler war ein Standartenhalter montiert. Es sah wie ein Militärfahrzeug aus.

20TRIBUNAL
    Der Gerichtssaal war nicht größer als ein Schulraum. An dem einen Ende saßen Wachen und Wärter auf vier oder fünf Bänken, die man dort aufgestellt hatte, und zwischen ihnen die Zuschauer: Mitglieder des Präsidiums und ausgewählte Funktionäre. Am anderen Ende hatten die drei Mitglieder des Gerichtes auf hochlehnigen Stühlen an einem unpolierten Eichenholztisch Platz genommen. Über ihnen hing an Drahtschlingen ein großer roter Stern aus Sperrholz von der Decke herab. Die Wände des Gerichtssaales waren weiß wie die Wände in der Zelle von Leamas.
    Etwas vor dem Tisch, aber durch seine ganze Länge voneinander getrennt, saßen sich auf Stühlen zwei Männer gegenüber. Der eine war mittleren Alters, vielleicht sechzig, und trug einen schwarzen Anzug mit grauem Schlips, jene Art Kleidung, wie sie in deutschen Dörfern zum Kirchgang getragen wird. Der andere war Fiedler.
    Leamas saß zwischen zwei Wächtern an der Rückwand des Raumes. Zwischen den Köpfen der Zuschauer hindurch konnte er Mundt sehen, der ebenfalls von Polizei umgeben war. Sein blondes Haar war sehr kurz geschnitten, und seine breiten Schultern steckten unter dem vertrauten Tuch eines Häftlingsanzuges.
    Es schien Leamas ein bezeichnender Hinweis auf die Einstellung des Gerichtes - oder auf den Einfluß Fiedlers - zu sein, dass er selbst Zivilkleidung tragen durfte, während Mundt in der Gefangenenkluft dasaß.
    Leamas saß noch nicht lange auf seinem Platz, als der Vorsitzende des Tribunals, der den Mittelplatz am Tisch einnahm, seine Glocke läutete. Dieser Klang lenkte den Blick von Leamas auf den Vorsitzenden,

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