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Der Spion, der aus der Kälte kam

Titel: Der Spion, der aus der Kälte kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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sie imstande war, es zu gebrauchen. Sie versuchte es zuerst bei den Kindern, und sie lachten und halfen ihr. Die Kinder hatten sich ihr gegenüber anfänglich seltsam benommen, als sei sie eine berühmte Persönlichkeit oder von großem Seltenheitswert. Am dritten Tag faßte sich eines von ihnen ein Herz und fragte, ob sie Schokolade von »drüben« mitgebracht habe. Daran hatte sie noch überhaupt nicht gedacht, und sie schämte sich jetzt. Danach schienen die Kinder sie vergessen zu haben.
    An den Abenden gab es Parteiarbeit. Sie verteilten Literatur, suchten Bezirksmitglieder auf, die im Betrieb ihr Soll nicht erfüllt oder in ihrem Eifer beim Besuch von Parteiversammlungen nachgelassen hatten, nahmen beim Distrikt an einer Diskussion über »Probleme der zentralen Verteilung von Landwirtschaftsprodukten« teil, bei der alle Sekretäre der Bezirksorganisation anwesend waren, und gingen zu einer Betriebsratssitzung einer Werkzeugmaschinenfabrik am Rande der Stadt.
    Zuletzt, am vierten Tag, einem Donnerstag, kam ihre eigene Bezirksversammlung. Liz erhoffte sich davon die erfreulichste Erfahrung ihres Aufenthaltes, denn es würde ein Beispiel für all das sein, was aus ihrem eigenen Bezirk in Bayswater einmal werden könnte. Sie hatten für die Diskussion des Abends einen wundervollen Titel gefunden - »Koexistenz nach zwei Kriegen« -, und sie erwarteten einen Rekordbesuch. Im ganzen Stadtviertel waren Rundschreiben verteilt worden, und sie hatten darauf geachtet, dass zur gleichen Zeit nicht etwa eine ähnliche Veranstaltung in der Nachbarschaft stattfand. Es war auch kein Tag mit verlängerter Ladenschlußzeit.
    Sieben Leute kamen.
    Sieben Leute und Liz, die Sekretärin der Bezirksorganisation und der Mann vom Kreis. Liz trug ein tapferes Gesicht zur Schau, war aber schrecklich betroffen. Sie konnte sich kaum auf den Redner konzentrieren, und als sie es versuchen wollte, verwendete er so kompliziert zusammengesetzte deutsche Worte, dass sie ihn ohnehin nicht verstand. Es war wie bei den Treffen in Bayswater oder wie bei dem Gottesdienst am Mittwoch abend, als sie noch regelmäßig die Kirche besuchte: die gleiche pflichteifrige kleine Gruppe verlorener Gesichter, die gleiche aufgeregte Befangenheit, das gleiche Gefühl, hier ruhe eine große Idee in den Händen von kleinen Leuten. Sie hatte bei diesen Veranstaltungen immer den gleichen Gedanken, und so schrecklich das wirklich war, so wünschte sie sich doch insgeheim, es möge einmal überhaupt niemand mehr zu diesen Treffen kommen, denn das wäre eine harte Tatsache gewesen und hätte irgendwie an Glaubensverfolgung und Erniedrigung erinnert - es wäre etwas gewesen, worauf man reagieren konnte.
    Aber sieben Leute waren nichts. Sie waren schlimmer als nichts, weil sie der Beweis für die Trägheit der nicht zu erobernden Masse waren. Sie brachen einem das Herz.
    Der Raum war besser als das Schulzimmer in Bayswater, aber selbst das war kein Trost. In Bayswater hatte es schon Spaß gemacht, überhaupt erst einmal einen Versammlungsraum zu finden. Am Anfang hatten sie deshalb immer so getan, als seien sie etwas anderes und nicht die Partei. Sie hatten die Hinterzimmer in Wirtschaften gemietet, einen Konferenzraum im Ardena-Café, oder sie hatten sich abwechselnd in ihren Wohnungen zu heimlichen Zusammenkünften getroffen. Dann war Bill Hazel von der Mittelschule zu ihnen gestoßen, und sie konnten sein Klassenzimmer benutzen. Selbst das war ein Risiko, denn der Rektor war in dem Glauben, Bill leite einen Theaterklub, so dass sie - wenigstens theoretisch - immer noch in der Gefahr schwebten, einmal hinausgeworfen zu werden. Das paßte aber noch immer besser zur Parteiarbeit, als diese Friedenshalle aus vorgefertigtem Beton mit den Rissen in allen Ecken und dem Leninbild. Warum hatten sie diese alberne Umrahmung um das Bild drapiert? Bündel von Orgelpfeifen, die aus den Ecken hervorsprossen, und Fähnchen, die schon ganz staubig waren. Es sah aus wie der Schmutz bei einem Faschistenbegräbnis. Manchmal dachte sie, dass Alec recht gehabt habe: man glaubte an Dinge, weil es für einen nötig war. Das, woran man glaubte, hatte an sich gar keinen Wert, es erfüllte von sich aus keine Aufgabe. Wie sagte er: »Ein Hund kratzt, wo es juckt. Verschiedene Hunde juckt es an verschiedenen Stellen.« Nein, das war falsch, Alec hatte nicht recht. Es war boshaft, so etwas zu sagen. Frieden, Freiheit und Gleichheit, das waren doch Tatsachen, natürlich waren sie das. Und dann die

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